Anschwellender Papstgesang

Seltsame Allianzen: So unterschiedlich Jürgen Habermas und Slavoj Žižek auch sind – die Wahl Joseph Ratzingers dürften beide gefreut haben. Sowohl die Frankfurter Schule als auch die antiliberale Postmoderne hatte sich dem Religiösen eh zugewandt

Gerade der konservative Papst ist ein idealer Ansprechpartner, wenn es um die unbedingte Geltung moralischer Pflichten gehen soll

VON ISOLDE CHARIM

In diesen Tagen gibt es zwei Menschen, die sich besonders freuen müssen. Gerade über diesen Papst. Es sind dies Jürgen Habermas und Slavoj Žižek. Und diese Freude dürfte eine ihrer wenigen Gemeinsamkeiten sein.

Bei beiden Intellektuellen konnte man in letzter Zeit eine erstaunliche Wendung hin zur Religion beobachten. Keine Konversion, nicht der plötzliche Ausbruch eines Glaubens, sondern vielmehr eine besondere Art der politischen Mobilisierung von Religion: der Rückgriff auf die Religion seitens jener, die nicht glauben. Dies ist der paradoxe Glaube von Nichtgläubigen, die in der Religion – nicht in den kirchlichen Reformbestrebungen, nicht in der Befreiungstheologie, sondern gerade in ihrer dogmatischen Version – ein Versprechen sehen. Ihre jeweiligen Motive und Ziele könnten jedoch nicht gegensätzlicher sein.

Was Habermas anlangt, so ist die erstaunliche Szene des Einvernehmens zwischen „Chefaufklärer“ und „Großinquisitor“ bei ihrem winterlichen Treffen im vergangenen Jahr in München noch deutlich in Erinnerung. Bereits bei seiner Friedenspreis-Rede im Jahre 2001 hat Habermas das Terrain für diese Begegnung abgesteckt. Die „entgleisende Modernisierung“, so Habermas, führe zu einer Situation, in der wir uns von unserem expliziten, militanten Atheismus verabschieden und in jene Ära eintreten sollten, die er als „postsäkular“ bezeichnet.

Möglich wird solch ein Rückgriff auf die Religion, wenn man annimmt, dass das Christentum seinen Fundamentalismus hinter sich gelassen hat. Notwendig aber wird dieser Rückgriff für Habermas, weil die Religion jene „wichtige Ressource“ bereitstelle, an der es uns mangelt: Sie liefere eine Sprache, die der fehlenden Artikulationsmöglichkeit gegen Markt- und Wissenslogik Gründe für ihren Einspruch bereitstelle.

Die große Autorität in Sachen Säkularisierung, Hans Blumenberg, hat diesen „potenzierten Sprachgeist“ des Christentums genau gegenteilig beurteilt. Er sah eine sprachliche Konstanz, das Fortleben theologischer Stilmittel bei gleichzeitiger Diskontinuität der Gehalte. Während Habermas im Fortbestand der religiösen Inhalte – garantiert durch eine gute Säkularisierung, d. h. durch eine richtige Übersetzung – nicht nur deren, sondern auch unsere Rettung sieht. Was aber verloren geht, was gerettet werden muss, da es uns retten soll, das sind die „Glaubenswahrheiten“. Geht es Habermas dabei um den Glauben oder um die Wahrheiten? Habermas geht es um Konzepte wie die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und um die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpfen. Denn das sind jene Vorstellungen, die Gründe für den Einspruch liefern, jene Vorstellungen eines „Wissens“ um die eigenen Grenzen, die die Religion plötzlich vernünftiger erscheinen lassen als eine ungezügelte Vernunft. Um Letztere zu hegen, wendet sich Habermas an die Religion, die ihr gegenüber die „unbedingte Geltung moralischer Pflichten“ auch in postsäkularen Gesellschaften garantieren soll. Kein Wunder, dass Ratzinger sich mit ihm absolut einig wusste. Der nunmehrige Papst war der ideale Ansprechpartner dafür.

Habermas aber möchte unschuldig auf die Religion zurückgreifen. So formuliert er den für den postsäkularen Liberalismus entscheidenden Satz: „Man muss nicht glauben, um zu verstehen.“ Verstehen und damit bewahren will er die religiösen Gehalte. Aber warum? Weil sie wahr sind – oder weil sie den gewünschten Effekt erzielen? Diesen Effekt einer freiwilligen, absoluten Verpflichtung haben diese Inhalte nur, wenn sie für wahr gehalten werden, und wahr sind sie nur für diejenigen, die glauben. Denn die göttliche Autorität anerkennen heißt glauben. Der Glaube ist der Kern jener Verpflichtung, in der Religion fallen Gehalt und Effekt, Glaube und Wahrheit zusammen. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Es gibt keinen unschuldigen, liberalen Rückgriff auf die Religion – nicht in systematischer Hinsicht und nicht in Zeiten wie diesen. Für die Religion gilt: Man muss glauben, um zu verstehen.

Der Theoretiker für diese Fragen ist Slavoj Žižek. Eigentlich. Heute aber vollzieht er selbst solch einen ungläubigen Rückgriff auf den Glauben. Unlängst hat er bei einem Vortrag erklärt: Gegen den Kapitalismus sei jeder, die Gretchenfrage aber laute: Wie hältst du’s mit der Demokratie? Aber seine jüngsten Publikationen zeigen, dass die neue Version der Frage aufs Engste mit Gretchens Original zusammenhängt: Wie hältst du’s mit der Religion? scheint eine immer drängendere Frage. Žižek stellt dem Westen dabei ein denkbar schlechtes Zeugnis aus.

Während Habermas den Ausschluss der Religion aus dem öffentlichen Diskurs beklagt, beklagt Žižek die einzige Form, in der die Religion hier toleriert würde: als leidenschaftslose Religion „light“ – als ein Kulturphänomen unter anderen. Also als etwas, das „wir praktizieren, ohne wirklich an (es) zu glauben, ohne (es) ernst zu nehmen“.

Darunter versteht er jenen liberalen Katholizismus, der die Gesetzesnorm den Erfordernissen der Realität anzupassen versucht – etwa in der Frage der Empfängnisverhütung. Jene also, die den Unterschied zwischen Emotionen und symbolischer Verpflichtung verkennen – und sogar bereit sind, die Zehn Gebote umzuschreiben: „Du sollst dich nicht scheiden lassen – außer wenn deine Ehe tatsächlich scheitert“, wenn also das Scheidungsverbot erst seine eigentliche Bedeutung gewinnt. Unseren postmodernen, permissiven Zeiten sei der Dalai Lama viel angemessener. Dieser vermittle, so Žižek, „einen vagen, angenehmen Spiritualismus, ohne irgendwelche spezifischen Verpflichtungen: Jeder, selbst der dekadenteste Hollywoodstar, kann sich ihm anschließen und zugleich seinen ausschweifenden, promisken Lebensstil fortsetzen.“ Der Papst hingegen, der kompromisslos an ebendiesen Verpflichtungen festhalte, schrieb Žižek im Jahre 2000, sei eine „authentische ethische Gestalt“. Wie muss Žižek an diesem Dienstag gejubelt haben!

Genau wegen dieser rigiden Ethik aber verfehle der Liberalismus – so Žižek – das Wesen der Religion. Diese sei per definitionem nicht tolerant: Sie ist immer „Wahrheitsereignis“ (so Žižeks Gewährsmann Alain Badiou), sie erhebt immer Anspruch auf Absolutheit. Die Vorstellung einer vernünftigen Religion, gar einer vernünftigeren als die reine, ungehemmte Vernunft selbst, wie man sie bei Habermas findet, würde Žižek vehement zurückweisen. Darin würde er ein liberales, also falsches Verständnis von Religion sehen, das die Differenz zwischen Liberalismus und Religion bis zur Unkenntlichkeit einebnet. Das richtige Verständnis von Religion hingegen weist Žižek auch den für ihn richtigen Umgang mit ihr. Dieser lautet: Von der Religion lernen heißt, Leidenschaften zu bejahen. Denn nichts anderes bedeutet der wahre ethische Akt, dieses Beharren auf der Verpflichtung gegen alle Vernunft. So kann auch der schmallippige Joseph Ratzinger in seinem Dogmatismus, in seinem Kampf gegen Relativismus diese religiöse Leidenschaft verkörpern.

Diese Leidenschaft müsse man „als Chance zu begreifen“. Man muss in Rechnung stellen, dass Žižek Polemik betreibt, die darauf zielt, die von der Political Correctness diskreditierte Leidenschaft zu rehabilitieren. Trotzdem sieht man nicht, wie man solch religiösen Eifer „für ein sozialistisches oder demokratisches Projekt“ nutzen kann, wie Žižek explizit erhofft.

Denn von der Religion jene Leidenschaftlichkeit zu übernehmen, an der es uns mangelt, heißt doch, Leidenschaften als reinen Antrieb zu verstehen – unabhängig davon, woran sie sich entzünden, unabhängig von ihrem Inhalt, ihrem Ziel. Es heißt, Leidenschaften per se für gut zu befinden. Žižek sieht Leidenschaft als eine reine Energiequelle. Er betreibt sein Linkssein als eine Art Vampirismus, der seinen Lebenssaft – die Leidenschaft – dort saugt, wo er ihn findet. Egal, wo. Egal, welche.

Mehr noch: Ist das tatsächlich der adäquate Lebenssaft, der adäquate Träger? Ist das unsere letzte linke Hoffnung – das Subjekt als kontrafaktisch Glaubendes, als ewig Begehrendes, als unstillbar Leidenschaftliches?

Was also bleibt von der materialistischen Lektion? Habermas will auf die Religion zurückgreifen, um sich von dort zur Stabilisierung des Liberalismus eine Eingrenzung, eine Hegung der enthemmten Vernunft zu holen, Žižek will genau das Gegenteil von ihr: Er wendet sich der Religion zu, um dort jene ethischen Leidenschaften zu gewinnen, die den Liberalismus bekämpfen sollen. Wir haben also entweder die Religion als einziges Modell für Leidenschaften und die Leidenschaft als einzige Ressource des Politischen – oder die Religion als letzte Ressource jener Vernunft, die noch ein Politisches garantieren soll.

Für beide Anliegen aber, so gegensätzlich sie auch sein mögen, ist Joseph Ratzinger als Benedikt XVI. die ideale Besetzung. Eine nicht geringe Leistung des neuen Papstes! In Starnberg und Ljubljana müssen die Korken geknallt haben.