: Mini-Boheme
Kehrwoche, Sparsamkeit, verbissene Rechtschaffenheit und Geld sind Markenzeichen der Schwaben. Ob es wahr ist oder nicht, bundesweit genießt Stuttgart einen niederschmetternden Ruf. Zerzauste Künstler und eine flippige Boheme-Szene werden der Stadt nicht zugetraut. Bietet Stuttgart keinen Platz für verrückte Seelen?
von Borjana Zamani
Die Wissenschaft kann die schönsten Illusionen platzen lassen. Es reicht ihr nicht, dass jedem Stuttgarter ohnehin ein biederer Ruf anhaftet. Nein, es muss noch schlimmer kommen. Der Ruf sei wohl berechtigt. „Arbeite und bete“, so sei es hier in der viertreichsten Stadt Deutschlands, sagt ein Soziologe von der Stuttgarter Universität.
Das Mercedes-Benz-Museum, ziemlich weit draußen, hat jährlich 520.000 Besucher. Dagegen wollen 125.000 im Jahr das Kunstmuseum mitten in der Stadt sehen. Drei Minuten Gehweg vom Kunstmuseum entfernt plätschert ein kleiner runder Brunnen. Goldene Buchstaben umschließen ihn: „Da nur erntet, wer gesät, spare heute ehe's zu spät.“ Nicht „leben und leben lassen“ wie in Berlin. Das sind wohl Fremdwörter hier. In Stuttgart muss alles ordentlich und richtig sein. Ob Feier, Kneipe oder Kunst. Allein aus diesem Grund könnte sich doch eigentlich eine Boheme bilden und die Ordnungsliebe aufs Korn nehmen.
Man kann nicht laut genug schreien, um gehört zu werden
Kunst, Leben und Rebellion müssen eins sein, damit sie den Namen Boheme verdienen, erklärt Hans-Georg Soeffner, emeritierter Professor für Soziologie. Underground, schöne und schräge Künste – all das falle unter Freizeit-Boheme. Eine starke, revoltierende Boheme setzt allerdings ein schwaches, zumindest schwankendes System voraus. Insofern kann man auch wieder froh sein, dass die Boheme hier nicht gedeiht. Außerdem bieten die Medien eine Flut an Informationen, Reizen und kranken Einfällen, die fast alles in gleicher Weise etablieren. Man kann heute nicht laut genug schreien, um gehört zu werden. Was übrig bleibt, ist eine freie Kunstszene, die Kunst um der Kunst willen macht oder als Lebensstil wählt. Na, immerhin.
Viele Stuttgarter Künstler ziehen nach Berlin. Dort schaue keiner danach, was für ein Auto man fahre. Dort komme man sich nicht asozial vor. Und was ist mit der Hochkultur, mit der Oper, mit dem Ballett? Alles sei nur für den Konsum gedacht, kommentiert der Stuttgarter Soziologe – sehen und gesehen werden. Und was ist mit den Theatern? Es gibt doch viele hier? Alles viel zu gefällig, so ein Regisseur, der bald auch seinen Koffer für Berlin packt. Will denn keiner bleiben? Wer Stuttgart verlässt, findet die Stadt topografisch schön. Vermisst aber die Inspiration durch andere Künstler. Stuttgart sei zu brav.
Mario Strzelski sitzt in seiner Galerie. Ein großer, noch junger Mann, mit kurzen hellen Haaren und langem Pony, der lieber zur rechten Gesichtsseite liegt. Lachfältchen strahlen um seine Augen. Unter dem dunklen Pulli lugt der Kragen eines blau-weiß karierten Baumwollhemds hervor. Der Arbeitstisch ist riesig. Die Tischplatte ist aus schwarzem Stein. Laptop und iPhone, Tabak, Espresso mit Milchschaum hält der Galerist in Reichweite. Drei Reihen fein geordneter Broschüren, Flyer, Kataloge, Leporellos präsentieren seine Welt.
Die Kunst und die Frauen haben ihn von Stuttgart nicht weggehen lassen. Stuttgart habe Potenzial. Die Leute seien interessiert und hätten Geld. Während des Gesprächs telefoniert Strzelski mehrmals, bekommt Lieferungen, mal am Haupteingang, mal an der Seitentür, plaudert schnell, regelt kurz. Mit dem Wort „topp“ schließt er fast jede seiner Verabredungen. Eine Menge frischer Kunst schmückt seine Galerie – alle sechs Wochen neu. Er entdeckt junge Talente. Seit 1998 ernährt ihn diese Kunst. Die Malerei sei keinesfalls tot. Auch in Stuttgart nicht. Das Wort Boheme gefällt ihm, trifft aber für seine Protegés nicht zu. Er fände es toll, wenn es Künstler gäbe, die gegen das System revoltierten. Unter seinen Leuten gebe es wenige, für die Kunst, Leben und Rebellion eins sei.
Dennoch verrät sich ein geheimnisvoll schillernder Alltag hier. In einem Innenhof im Rotlichtviertel befinde sich die Elite-Bar eines Kunstliebhabers. Die Besucher werden per Gesichtskontrolle ausgesucht. Strzelski ist gern gesehener Gast. E-Mails laden ihn gelegentlich zu schrägen Kellerveranstaltungen ein. Auch den Nordbahnhof erwähnt er als einen Rendezvous-Ort mit schrillem Flair. Wenn jemand in Stuttgart einsam sei, müsse er diese Erlebniswelt kennenlernen, ist sein Tipp. Aber seine eigenen wilden Zeiten seien vorbei. Also gibt es sie doch, die inspirierende Kunstwelt in Stuttgart.
Der Poser und sein Porsche
El Poser nennt sich ein Überlebenskünstler. Dieser kleine, feine Mann steigt oft aus einem nagelneuen Porsche. Dann kleidet seinen Körper ein dunkler Anzug mit kariertem Schlips und ungebügeltem weißem Baumwollhemd. Seine spitzen Schuhe führen ihn zu einem italienischen Café im Stuttgarter Westen. „Ruf mich am Mittwoch erst ab 17 Uhr an, ich muss bis dahin schlafen und meinen Schlafrhythmus umstellen“, regelt er in ernstem Ton die Verabredung. Am Freitag sitzt er dann im Fischimbiss am Bahnhof und genießt sein Abendbrot. Sich hier zu treffen sei ihm viel lieber, als sich in der Disco anzuschreien, sagt er. Aber nachher könne man sich auch in der „Schankstelle“ weiterunterhalten.
Wer Marlboro Gold will, kriegt sie, und tschüss
Er sei früh aus dem Bankgeschäft ausgestiegen, wo man ihn gerne behalten hätte. Er könne gut reden und gut verkaufen, erzählt er. Aber ihn widere es an, die Kunden nicht zu beraten, sondern zum Kauf zu überreden. El Poser redet gern. Langsam, still, fast behutsam. Dieses Auto gehöre ihm nicht. Ein Multijobber ist er. Ein Job als Fahrer, einer an einer Tankstelle, wo er erleichtert sei, den Kunden nichts andrehen zu müssen. Wer Marlboro Gold wolle, kriege sie, und tschüss. Für eine andere Firma kutschiert er Prominente durch die ganze Republik.
El Poser ist eigentlich Musiker. Er trägt eine enge hellbraune Lederjacke, bleiche Bluejeans, Turnschuhe, bunte Mützen und Aufdruck-Shirts, wenn er nicht gerade den Porsche anderer Leute fahren muss. Konzerte gibt er in Stuttgarter und Esslinger Bars – in „Die Bar“, im Café Stella. Die Musik ernährt ihn nur bedingt, aber sie erfüllt ihn. Sie helfe ihm, den Kapitalismus zu verkraften. Die Musik sei sein Lebensstil. Er sei jetzt zufrieden, er sei er selbst.
Fragen wir einen freien Schauspieler, der von seiner Kunst leben kann und der gerne in Stuttgart bleiben möchte. Er sagt, die Stadt biete mehr Möglichkeiten als jede Kunstmetropole, wo man einer von Tausenden sei. Er fühle sich hier wohl. Er wohne im Stuttgarter Westen, und ein Stockwerk tiefer wohnten Gleichgesinnte. Zusammen ist man weniger allein.
Seien wir beruhigt, es gibt in Stuttgart eine künstlerische Szene, die der Doktrin von Ordnung und Arbeit trotzt. Auch die Wissenschaft konstatiert, dass sich die Stadt verändert. Aber langsam.