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Archiv-Artikel

Kampf an den Rändern

SLUMS Fast eine Milliarde Menschen leben heute in Armenvierteln an den Rändern der Megacities. Raúl Zibechi untersucht die gigantischen Peripherien in Lateinamerika

Wie stark werden diese neuen Organisationen von den Regierungen vereinnahmt

VON FLORIAN SCHMID

Schon vor einigen Jahren warnte der amerikanische Soziologe Mike Davis in seinem Bestseller „Planet der Slums“ vor den Folgen der Slumisierung und sagte eine düstere Zukunft voraus. In den Armenvierteln sieht er vor allem christliche und islamistische Fundamentalisten auf dem Vormarsch. Ganz anders argumentiert Doug Sanders in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch „Arrival City“. In den Slums und „Ankunftsstädten“, wie er sie nennt, sieht er ein großes Potenzial für einen neuen Mittelstand, er prophezeit gar einen „Wirtschafts- und Kulturboom“. Unter seinem Blick werden die Stadtperipherien quasi zu sozialdarwinistischen Durchlauferhitzern, die Leistung und Integration erzwingen.

Ganz anders sieht die radikale Linke die neuen gigantischen Stadtperipherien in Lateinamerika, Asien und Afrika. Im viel diskutierten Manifest „Der kommende Aufstand“ werden Slums zu revolutionären Orten verklärt, und Slavoj Zizek fordert gar den Schulterschluss der Intellektuellen in der Ersten Welt mit den Bewohnern der Armenviertel in der Dritten Welt. Wie das funktionieren soll, führt er nicht aus.

Näher an den Realitäten vor Ort ist Raúl Zibechi. Der aus Uruguay stammende Extupamaro untersucht in seinem Buch „Territorien des Widerstands“ die lateinamerikanischen Peripherien. Während die sogenannten Vorstädte der Verzweiflung wie von Mike Davis meist als soziales Horrormuseum beschrieben werden oder Antonio Negri den dortigen Jugendlichen eine „negative Identität“ ausstellt, betont Zibechi, dass hier neue soziale und politische Strukturen entstehen. Dabei konstituieren sich im Zuge von Besetzungen und autonomen Selbstorganisationen wie Nachbarschaftshilfe, gemeinsame Speiseprogramme und kollektiver Hausbau neue politische Subjekte. Die Geschichte der autonomen Stadtbewegungen und ihrer Besetzungen in Lateinamerika reicht bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurück.

1953 kommt es in Santiago de Chile zu der bis dahin größten Besetzung urbanen Territoriums. „La Victoria“, so der programmatische Name der neuen 55 Hektar großen Siedlung, wird gegen Räumungsversuche verteidigt, und nach zwei Jahren leben dort 18.000 Menschen in 5.000 selbst gebauten Häusern. „La Victoria“ wird in Lateinamerika zum Modell für urbane Landnahmen, die es in den 50ern in Santiago de Chile und Lima, in den 80ern in Montevideo und Buenos Aires gab. Die kollektiven Besetzungen unterscheiden sich von den individuellen Ansiedlungsformen der Favelas.

Neue politische Landkarte

Für Raúl Zibechi sind es vor allem die familiären Strukturen der Landbevölkerung, die hier in die Städte transferiert und unter neuen Vorzeichen eine tragende Rolle für die selbst verwalteten Räume spielen. Nicht zuletzt die Monokulturen der globalisierten Agrar- und Lebensmittelindustrie sorgen in Lateinamerika vor allem mit Sojaanbau und Rinderzucht für ein Zurückdrängen der kleinbäuerlichen Strukturen auf dem Land und verstärken die Abwanderungsbewegungen in die Städte. Die Strategien der Besetzungen wurden aber auch von den Landlosen-Bewegungen erfolgreich umgesetzt. Insgesamt sind in den letzten 30 Jahren in Lateinamerika 5000 selbst verwaltete Siedlungen auf 25 Millionen Hektar besetztem Land entstanden.

Diese Gegenmacht von unten, los de abajo, wie sie in Lateinamerika genannt wird, spielte auch bei der Umstrukturierung der politischen Landkarten eine wichtige Rolle. Wie erfolgreich diese Bewegungen sein können, zeigt der gerade in die Kinos gekommene Film „Und dann der Regen“, der den Aufstand während des Wasserkrieges in Bolivien filmisch in Szene setzt. Aber auch an den linken Wahlerfolgen in Lateinamerika hatten die Bewegungen laut Zibechi einen entscheidenden Anteil. Heute stellt sich die Frage, wie stark diese neuen Organisationen von den Regierungen vereinnahmt werden. Während linke Politik in Lateinamerika vor allem in Parteien und Gewerkschaften organisiert ist, stellen die Bewegungen der Landlosen und Besetzer eine neue Art von Organisationsformen dar. Über NGOs und kommunale Stadtteilinitiativen versucht der Staat vermehrt in diese Bewegungen hineinzuregieren – und sie laut Zibechi letztlich zu zähmen.

„Territorien des Widerstands“ zeigt die ganze Breite der unterschiedlichen Bewegungsansätze und ihre historischen Entwicklungen. Raúl Zibechi hat bereits mehrere Einzelstudien zu diesen Themen veröffentlicht. „Territorien des Widerstands“ fächert panoramaartig die Vielfalt politischer Bewegungen auf, die hierzulande bisher wenig reflektiert wurden.

Raúl Zibechi: „Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherien Lateinamerikas“. Aus dem Span. v. Kirsten Achtelik und Huberta von Wangenheim. Assoziation A, Berlin 2011, 172 S., 16 Euro