: In Überlebensangst
AUS BERLIN WALTRAUD SCHWAB
Raisa Kononenko hat Babij Jar überlebt. Sie kann kaum davon sprechen. „Der Tag, da ich durch ein Wunder am Leben blieb. Am blutigen Tag, am blutigen Tag.“ Ein schreckliches Wunder ist es. Es verdammt sie zum Leben, obwohl sie schon in der Schlucht stand, in die die Juden von Kiew gejagt wurden. Das Geräusch der Gewehrsalven erstickte deren Schreien. Auch den ihrer Mutter. Diese lag längst unter den Erschossenen. „Die Erde war heiß. Die Erde hat gebebt, als wäre sie ein Meer. Sie war heiß von den Toten.“ Wie kann die Erde heiß sein von den Toten? Sie weiß nicht warum. „Sie war heiß.“ So ist Hölle.
Kononenko will vergessen. Sie kann nicht. Sie ist jetzt 77. Je älter sie wird, desto mehr kommt der Schrecken zurück. „Manchmal hab ich solche Depressionen, dass ich nicht sprechen kann.“ Matt geht sie am Arm ihres Mannes die Turmstraße in Berlin-Moabit entlang. Die beiden haben Guenia Smuschkewitsch, eine Freundin, besucht. Jahrelang war diese Soldatin in der Roten Armee. Seit den 90er-Jahren leben die zwei Frauen nun in Berlin. Sie kennen sich vom Club der Veteraninnen der Jüdischen Gemeinde.
Smuschkewitsch drängt Kononenko immer wieder, ihre Geschichte doch zu erzählen. „Bald ist der 8. Mai. Du musst erzählen, du musst.“ Kononenko, wischt sich die feinen weißblonden Haare aus dem Gesicht. Sie hat Kopfschmerzen. Sie hat Angst vor den Bildern im Kopf. „Ich habe diese Geschichte nicht meinen Kindern erzählt.“
Kononenko braucht Zeit. Immer wieder beginnt sie von vorn. „Ich habe in einem Augenblick alles vergessen. In einer Sekunde bin ich eine alte Frau geworden.“ Es ist der Moment in der Schlucht. Sie sagt es bei einem der Treffen – mal bei Smuschkewitsch, mal bei ihr zu Hause.
Raisa Kononenko hieß einmal Raisa Pogrebinskaja. Es ist ein jüdischer Name. Die Leute in der Ukraine erkennen dies sofort, meint sie, denn schon unter Stalin hatten es die Juden schwer. Wie aber konnten sie ahnen, dass die Deutschen noch mehr Grausamkeit kennen? Wie konnten sie ahnen, dass die SS den 29. September zu ihrem Todestag bestimmt hatte? Nur zehn Tage nachdem die Wehrmacht die ukrainische Hauptstadt besetzt hatte. So schnell ging das.
Am 29. September sollen sich die Juden an der Ecke Melnik- und Dokteriwskistraße versammeln, lautete die Order der Deutschen. Mitzunehmen sind: warme Kleidung, Dokumente, Wertsachen. Bei den Pogrebinskis sind nur die Mutter und Raisa zu Hause. Vater und Bruder sind bei der Armee, die ältere Schwester hat sich versteckt. Mutter und Tochter ziehen im langen Zug nach Babij Jar außerhalb der Stadt, Babij Jar heißt Großmütterchenschlucht. Anders als angeordnet nehmen sie nichts mit. Keine Wertsachen. Keine Pelzmäntel. „Wie Bäuerinnen waren wir.“
Auf dem Weg sagt die Mutter zu ihrer 13-jährigen Tochter: „Lauf weg.“ Raisa will nicht. „Da ist schwere Arbeit, wo wir hingehen. Du bist zu jung, zu schwach. Lauf weg.“ Die Tochter will nicht. Die Mutter wird hart. Sie besteht darauf. Lässt sich nicht erweichen. Sie insistiert – wie die Smuschkewitsch es jetzt, so kurz vor dem 8. Mai, tut. „Du musst.“ Da sieht sich Kononenko in der Erinnerung weglaufen. Es ist der Moment, der ihr Schicksal besiegelt: Sie muss überleben. „Überleben!“ Kononenko sinkt in sich zusammen, wenn sie das sagt.
Die 13-Jährige rennt. Sie rennt, stürzt, fällt und findet sich im Keller einer Mühle wieder. Da sind schon andere Juden versteckt. Man sagt ihr: Sei still! Vergeblich. Eine Razzia. Wieder ist sie in der Prozession der Menschen nach Babij Jar. Zur Schlucht. Sie kommt zum Platz, wo die Leute gezwungen werden, sich auszuziehen. „Die Berge an Koffern, an Taschen, an Pelzmänteln“, sagt sie. „Riesige Berge an goldenen Sachen übereinander geworfen und die Leute, die aneinander drängen, nackt. Familien, Mütter, alte Leute, Kinder, die sich aneinander drängen mit Angst. Mit Angstaugen.“
Raisa zieht sich nicht aus. „Ich hatte doch nur das Kleid an.“ Da wird sie schon von einem Soldaten zur Grube gestoßen. „Sie ist keine Jüdin“, schreit jemand mit letzter Kraft. Raisa weiß auch nicht, warum sie plötzlich vor dem Soldaten auf die Knie fällt und fleht: „Ich bin keine Jüdin.“ Blauäugig, mit langen blonden Zöpfen – zum Feindbild passt sie nicht. Eine Sekunde ist der Soldat irritiert. Das Mädchen vor ihm bekreuzigt sich und sagt das Vaterunser auf. Sie hat es bei Freundinnen gelernt. Der Soldat lässt sie laufen. Geh, geh weg! „Ich rannte. Rannte. Ich schaute mich um. Die Felder leer.“ Und dann fällt sie und bleibt liegen und weint. Weinte.
In Babij Jar werden am 29. und 30. September 33.771 Menschen erschossen. Mehr als hundert Lastwagenladungen Kleidung wurden für die NS-Wohlfahrt abtransportiert. Die Wände der Schlucht sollen von Wehrmachts-Pionieren anschließend gesprengt worden sein.
In Kiew ist niemand für das Mädchen da. Keiner, der ihr Schutz gibt. Die Leute, die sie erkennen, schicken sie weiter. Jüdin, das heißt Gefahr. Auch ihre Schwester verneint. Sie ist auf dem Weg zu den Partisanen. „Nimm mich mit.“ – „Du bist zu jung.“ Kononenko zeigt ein Bild ihrer Schwester. Das einzige, das ihr geblieben ist. „Ich hab es auf meiner Brust getragen. Von meinem Bruder, meiner Mutter hab ich keine Gesichter mehr.“
Tagelang läuft sie von Dorf zu Dorf. Halbverhungert, verlaust. „Ich wollte nicht mehr leben.“ Irgendwann wird sie auf der Straße aufgelesen und in ein Waisenhaus gebracht. Dort wird sie als Jüdin erkannt. Sie läuft weg, wird wieder erkannt, läuft wieder weg. „Man begegnet mir wie einem Juden. Nichts zu essen, nichts zu trinken, und am Morgen überlässt man mich dem Schicksal.“ Ein Jahr geht das so. Zwischen ihr und der Welt ist keine Verbindung mehr. Kononenko wischt sich über die Stirn. „Das ist auch Schicksal, wenn man leben muss.“
Kononenko will aufhören. „Einmal hab ich die Geschichte doch schon erzählt.“ Sie legt eine Videokassette ein von Antonia Lerchs Film „Letzte Runde“. Dort, in einer Berliner Kneipe am Ende der Nacht, sitzt sie und liest das Gedicht vor, das sie jahrelang im Kopf hatte und nach dem Krieg erst aufschrieb: „Der Tag, da ich durch ein Wunder am Leben blieb. Am blutigen Tag, am blutigen Tag.“ Vor zehn Jahren wurde der Film gemacht. Stockend erzählt sie auch da. Als die Kassette zu Ende ist und der Fernseher umspringt auf eine Ratesendung, sitzt sie in ihrem Sessel und weint.
Eines Tages im Herbst 1942 kommt sie auf ihrer ziellosen Flucht in der Ukraine an einem Bahnhof vorbei. Großes Geschrei ist zu hören. Junge Leute verabschieden sich schluchzend. Sie versteht es nicht, will es nicht verstehen, wendet sich ab und wird von einen Soldaten gepackt. Der glaubt, sie wolle türmen, und wirft sie in den Viehwaggon.
Unter ukrainischen Jugendlichen, die als Zwangsarbeiter nach Deutschland geschickt werden, findet sie sich wieder. Sie spricht auf der ganzen Fahrt kein Wort mit ihnen, tut so, als sei sie stumm. „Sie hätten mich als Jüdin erkannt und verraten.“ Sie glaubt es, sie weiß es. In Gabelbach, in der Nähe von Augsburg, kommt sie auf einen Bauernhof. Sie ist unterernährt, zwei Jahre jünger als das übliche Alter für Zwangsarbeiter und jüdisch. Als man sie fragt, wie sie heißt, nennt sie einen ukrainischen Namen: Kononenko.
Kononenko überlebt. Ihre Mutter wollte es so. Weil sie Hunger hatte, aß sie von den Kartoffeln, die für die Schweine gekocht wurden. Sie trank die Eier, die sie auf dem Heuboden fand, aus. Sie redete kaum, traf sich nie mit anderen Zwangsarbeitern im Dorf. Nur an das kleine Mädchen in der ersten Familie, in der sie war, erinnert sie sich gern. Es brachte ihr heimlich Kuchen. Als es Scharlach bekam, benetzte ihr Raisa Kononenko oft die Lippen mit Wasser. Als sie sich selbst ansteckte, benetzte das kleine Mädchen dann ihre. „Sie waren nicht so schlecht zu mir, aber mein Leben war schlecht. Ich hatte immer Angst. Vor den Deutschen. Vor den Russen. Ich habe von meinem Land die Angst mitgebracht. Ich war ein in mir gefangenes Kind.“
Kononenko hat Angst vor ihrer Geschichte. Sie tut viel, um das Erzählen hinauszuschieben. „Kommen Sie, essen Sie.“ Kein Besuch, ohne dass sie Köstlichkeiten auftischt. „Sie ist eine ausgezeichnete Köchin“, sagt Smuschkewitsch. Kononenko hat ein opulentes Mahl vorbereitet: Zu Fisch, gebratenem Hähnchen, Krautsalat, Piroggen, Kaviar, Lachs und Gemüse gibt es Pilaw mit Schweinehaxe und Süßigkeiten. Direkt vom Tisch aus weitet sich der Himmel über Schöneberg.
Raisa Kononenko ist Raisa Pogrebinskaja. Nach dem Krieg gibt es jedoch nichts mehr – keine Urkunden, keine Papiere – die Pogrebinskajas Existenz bestätigen. Selbst ihr Vater, der einzige Überlebende der Familie, erkennt die junge Frau nicht, die 1946 wieder auftaucht, nachdem sie bei der russischen Armee noch ein Jahr Übersetzerin war. Erst die gemeinsamen Erinnerungen an früher machen sie zu seiner Tochter.
Unzählige Schreiben von jüdischen Organisationen zieht sie aus einer Aldi-Tüte, legt sie auf den Tisch. Darin wird bestätigt, dass die beiden Namen einer Person gelten. Manchmal, wenn sie ihre Dokumente wie Butterbrotpapier zusammenlegt und wieder in die Tüte stopft, entsteht der Eindruck, sie wünsche sich, dass man ihr nicht glaubt. Denn Kononenko erträgt ihr Leben als Pogrebinskaja kaum. Das Mädchen wurde in Babij Jar ausgelöscht. „Albträume“, sagt ihr Mann, ein Arzt, in gebrochenem Deutsch. „Wenn sie ihre Geschichte erzählt, dann brüllt sie nächtelang im Schlaf.“