: Die Toleranzdestille
Die Eckkneipen siechen dahin. Aber nicht alle. Dank Hertha und Premiere finden Kreuzberger zueinander, die eigentlich gar nicht zueinander passen: Grünflaschenbier- und Kugeltrinker zelebrieren nebeneinander Jubel auf Zimmerlautstärke
VON ANDREAS RÜTTENAUER
Angeblich sterben sie aus, jene Kneipen in Berlin, in denen das Bier noch in der so genannten Kugel ausgeschenkt wird. Und Jahr für Jahr werden Trauergesänge in der Lokalpresse angestimmt, die das Ende der Eckkneipenkultur beweinen. Die da am lautesten jammern und das Leben am Tresen in höchsten Tönen loben, sind wahrscheinlich selten in solchen Lokalitäten. Sonst würden sie solche Lobgesänge wahrscheinlich nicht anstimmen. Grüne Gurkenhirnsuppe an Ochsenfroschschenkelcarpaccio, nein, das gibt es einfach nicht in der Eckkneipe. Höchstens Buletten – aber die auch nicht immer. Die Stammgäste bleiben also weitgehend unbehelligt von der Außenwelt. Und wenn einer der Dauertrinker stirbt, dann fehlt meistens der Nachwuchs, um den Platz besetzen zu können, auf dem der Verstorbene über Jahrzehnte seinen Hintern platt gesessen hat. Und wenn eines Tages dann einmal alle tot sind, dann stirbt auch die Eckkneipe. So einfach ist das mit dem Eckkneipensterben.
Manche Wirte allerdings stemmen sich gegen dieses Naturgesetz. Sie schließen einen Vertrag mit Premiere, und so wird aus den Lokalen mit den fettigen Fensterscheiben und den gelb gerauchten Gardinen eine Premiere Sportsbar. Eine solche ist auch die Destille am Mehringdamm. Die wirbt an jedem Bundesligaspieltag mit einer großen Tafel um Besucher: „Hier keine Konferenz, hier nur Hertha BSC“. Für die typischen Kreuzberger, die dem SC Freiburg oder dem Günter Netzer der 70er-Jahre verbunden sind, heißt es: Wir müssen draußen bleiben. Die Destille ist einer der wenigen Orte in Kreuzberg, wo man sich offen dazu bekennen kann, schon immer Anhänger von Hertha BSC gewesen zu sein, ohne Angst um Leib und Leben haben zu müssen. Die Destille ist immer voll, wenn Hertha spielt. Erstaunlich. Es gibt sie wirklich: Hertha-Fans in Kreuzberg.
Doch nicht nur jene Fußballversteher mit den rot gesoffenen Eckkneipenvisagen, die so viel Zeit mit Tresengesprächen rund um Hertha verbringen, dass sie wirklich glauben, sie wären Bundesligatrainer, treffen sich in der Destille. Die Gäste sind auch nicht verpflichtet, sich eine Kugel mit einem Getränk namens Schultheiss zu bestellen. Nein, wenn Hertha in der Destille gezeigt wird, dann kommen auch die Kreuzberger, die sich nicht vorstellen können, Bier aus einem anderen Behältnis zu trinken als einer grünen Flasche. Sie werden toleriert. Ja, auch das ist Kreuzberg. Menschen, die aussehen, als würden sie ihren Rasen mit der Nagelschere schneiden, wenn sie denn einen hätten, haben nichts gegen Männer, die Bier aus Bremen trinken und so aussehen wie Menschen, die in ihrem Graten nur Hanf wachsen ließen, wenn sie es denn dürften.
Die Stimmung ist meist gut vor dem Anpfiff. Egal wo Hertha steht in der Tabelle, der Blick eines Hertha-Fans ist immer nach oben gerichtet. Als Hertha in der vergangenen Saison lange auf einem Abstiegsplatz stand, wurden immer noch optimistische Prognosen angestellt. „Wenn wir aus den nächsten drei Spielen 20 Punkte holen, dann können wir sogar noch um die Meisterschaft mitspielen.“ Schade, dass das nicht geklappt hat. Eine Meisterschaftsfeier in der Destille wäre sicher zumindest ein Ereignis. Richtig gut drauf sind all diejenigen, die vor dem Spiel so viel Bier getrunken haben, dass sie sich nicht mehr an den rot-gelben Premiere-Krawatten stören, die sich um die Hälse derjenigen schlingen, die den Fans das Spiel erläutern. Kommentare! Als ob die nötig wären!
In der Destille sitzt geballte Fußballkompetenz. „Der hat doch keine Ahnung!“ – „Den hätte ich ja reingemacht.“ – „Der ist doch blind!“ Sätze, wie sie Franz Beckenbauer und Günter Netzer nie sagen würden, wahrscheinlich aber immer denken. Man kennt sich aus. Bisweilen werden auch ungewöhnliche Aussagen getroffen: „Der hat wohl zu wenig gekifft“, hat einmal einer der Grünflaschenbiertrinker gesagt, nachdem er sich über die heftige Reaktion eines gefoulten Spielers gewundert hat. Keiner reagiert. Auch die grauhaarigen Spezialisten nicht. Wer Reval raucht, der stört sich nicht an Kiffern. Kreuzberger Toleranz.
Wenn Hertha ein Tor schießt, schütteln die Flaschenkreuzberger den Kopf, und die Kugelkreuzberger schreien ein kurzes „Ja!“ durch die Kneipe. Kreuzberger Freudentaumel. So richtig laut wird es allerdings nie. „Wir sind ja schließlich nicht bei Südländers.“ Freuen darf man sich zwar schon, aber länger als ein paar Zehntelsekunden sollte der Jubel dann doch nicht dauern. Außerdem versteht der Wirt die Bestellungen nicht mehr, wenn der Geräuschpegel zu hoch ist. Und deswegen geht man ja in die Kneipe zum Fußballschauen, weil man etwas trinken will. Und wie soll man etwas trinken, wenn der Wirt die Bestellung nicht versteht? Kneipennotwendigkeiten.
Milchkaffee trinkt niemand in der Destille. Alkoholfreie Getränke werden so gut wie gar nicht nachgefragt. Wenn ein Mann, der aussieht, wie man eben aussieht, wenn man regelmäßig in Kneipen wie die Destille geht, ein großes Mineralwasser bestellt, dann hagelt es sowieso nur unangenehme Bemerkungen. „Ach, ich verstehe, die Leber“, ist einer dieser Sätze, die gewisse Leute einfach nicht gerne hören. Alkoholfreie Getränke dürfen eigentlich nur Kinder bestellen. Und wenn Fußball gezeigt wird in der Destille, dann sitzen tatsächlich immer auch ein paar Kinder in der Kneipe. Die Destille hat vielleicht Glück und kann ihr Nachwuchsproblem lösen. Vielleicht muss sie sich nicht am Eckkneipensterben beteiligen. Premiere und Hertha sei Dank!
Plötzlich ein Torschrei. Totenstille im Schankraum. Nur das Revalröcheln eines Altfans ist zu hören. Es läuft die Übertragung des Spiels Bayern München gegen Hertha BSC. Und es hat jemand gejubelt, als die Münchner ein Tor geschossen haben. Fassungslosigkeit in der Destille. Alle Köpfe drehen sich in Richtung des Übeltäters. Der Angestarrte errötet. Niemand sagt etwas. Die Berliner Schnauze scheint zu versagen. Kein Spruch – nichts. Langsam richten sich die Blicke wieder auf die Großleinwand. Das hat es noch nie gegeben. Doch niemand sagt etwas – bis zum Schluss nicht. Und genau deshalb ist der Bayernfan nie mehr in der Destille gesehen worden. Er hat verstanden. Kreuzberger Toleranz kann ganz schön brutal sein. Gesagt hat wirklich niemand etwas.