„Die Frauen müssen gehört werden“

Der pensionierte katholische Priester Ferdinand Kerstiens aus Marl kann sich der nationalen Euphorie nach der Papstwahl nicht anschließen. Der Ratzinger-Kritiker und Vertreter der „Kirche von unten“ fordert mehr Rechte für Frauen und Homosexuelle

INTERVIEW VON NATALIE WIESMANN

taz: Herr Kerstiens, was halten Sie vom nationalen Freudentaumel nach der Wahl vonJoseph Ratzinger zum Papst?Ferdinand Kerstiens: Für mich hat die Wahl des Papstes nichts mit Deutschland zu tun. Es kommt auf seine Einstellung und Amtsführung an und nicht auf seine Herkunft.

Sie gehörten immer zu den schärfsten Kritikern Ratzingers. Ihm mangele es an Sensibilität für die Leiden an der Kirche. Was heißt das?

Die katholische Kirche spricht immer von Solidarität und Sensibilität mit den Leidenden. Doch es gibt auch viele Gruppen innerhalb des Katholizismus, die an der Kirche selbst leiden. So zum Beispiel die Frauen und Homosexuellen. Die Kirche muss ihre Bedürfnisse anhören und sie nicht wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Neigung in eine bestimmte Ecke stecken.

Ratzinger war bisher nicht gerade dafür bekannt, diese Gruppen anzuhören.

Bisher war er in der Tat immer ein enger und strenger Glaubenswächter. Wenn er jetzt zum Glaubensverkünder wird und auf die Menschen zugeht, könnte die Papstwahl nicht nur einen Stellenwechsel, sondern auch einen Stellungswechsel nach sich ziehen.

Der Sozialdienst katholischer Frauen scheint diese Hoffnung nicht mit ihnen zu teilen.

Das ist verständlich. Schließlich hat Ratzinger dafür gesorgt, dass die deutsche Bischofskonferenz Ende der 1990er Jahre aus der katholischen Schwangerenkonfliktberatung ausgestiegen ist. Auch gegenüber den Forderungen der Frauen nach einem Priesteramt ist der neue Papst nicht aufgeschlossen. Das ist gerade in Lateinamerika ein großes Problem.

Warum?

In Lateinamerika werden zwei Drittel der Gemeinden von Frauen geleitet. Weil ihnen das Priesteramt verwehrt wird, können sie keine Eucharistie feiern. Genauso ist es bei Männern, die verheiratet sind. Die brasilianische Bischofskonferenz hat den Vatikan aufgerufen, das Zölibat aufzugeben. Sie bekam nicht einmal eine Antwort aus Rom. Die katholische Kirche muss von einem falschen Zentralismus ablassen und die Kirche vor Ort stärken.

Hätten Sie sich gefreut, wenn ein Lateinamerikaner Papst geworden wäre?

Das kann man so pauschal nicht sagen. Es gibt auch dort viele konservative Priester, auch unter dem Nachwuchs. Von einem Papst, egal woher er kommt, wünsche ich mir, dass er die Kirche nicht durch Reglementierung und Verurteilung leitet. Er muss im Dialog mit der eigenen Kirche bleiben und diesen dann auf die anderen christlichen Kirchen und andere Religionen ausweiten. Damit kann ein Papst viel für die Glaubwürdigkeit und Menschenfreundlichkeit der katholischen Kirche tun. Ratzinger hat den Fehler gemacht und der evangelischen Kirche im August 2000 ihren Kirchenstatus aberkannt.

So wie CDU-Chef Jürgen Rüttgers, der kürzlich in einer Talkshow gesagt hat, dass das Menschenbild der katholischen Kirche dem der anderen Religionen überlegen sei.

Das ist eine totale Entgleisung von Rüttgers. Es kann nicht sein, dass Politiker die Papstwahl für ihre eigenen Interessen missbrauchen.