„Kinder nicht blauäugig lassen“

SCHULEXPERIMENT Die Freie Demokratische Schule Nordwest in Oldenburg soll im neuen Schuljahr an den Start gehen. Die Genehmigung der Schulbehörde kam in beinahe letzter Minute, die Baugenehmigung fehlt noch. Michael Markus vom Vorstand erklärt, wie man sich trotz Kompromissen treu bleibt, warum Lernen etwas Tolles ist und dass man trotzdem auch stattdessen Fußball spielen darf

ist Mitglied im Vorstand des Vereins Freie Demokratische Schule Nordwest. Der angehende Lernbegleiter, wie sich die Lehrer an der FDS nennen, studiert an der Uni Bremen Foto: Beelte

INTERVIEW ANNEDORE BEELTE

taz: Herr Markus, Sie wollen zum neuen Schuljahr den Schulbetrieb aufnehmen, haben aber noch kein Schulgebäude. Was passiert, wenn nächste Woche das Schuljahr anfängt?

Michael Markus: Ich halte es für utopisch, am 6. August zu starten. Aber die Eltern, deren Kinder schulpflichtig sind, sehen das etwas anders. Es ist verständlicherweise höchst unglücklich, wenn die Kinder erst in der Regelschule eingeschult werden und dann nach den Herbstferien wechseln. Wir haben zwei Gebäude im Auge, aber die Baugenehmigung fehlt noch. Die Möbel und Materialien stehen in einer Scheune bereit. Wenn wir die Genehmigung haben, können wir sofort starten.

Warum ist es denn so knapp geworden?

Der Eigentümer des Gebäudes, das wir ursprünglich im Auge hatten, hat noch einen zweiten Mieter gesucht. Wir sollten beide zusammen den Mietvertrag unterschreiben. Aber wir hatten zu dem Zeitpunkt noch keine Genehmigung von der Landesschulbehörde, da wollten wir keinen Zehnjahresvertrag unterschreiben. Daraufhin ist der andere Mieter ausgestiegen.

War es schwierig, die Genehmigung von der Schulbehörde zu bekommen?

Erstmal ist unser Antrag auf reges Unverständnis gestoßen. Die haben uns nicht ganz ernst genommen. Dann hat sich der Oldenburger Pädagogikprofessor Hilbert Meyer dazwischen geschaltet und ein kleines Gutachten geschrieben. Seitdem gab es respektvolle Gespräche. Wir sind unserem ursprünglichen Konzept relativ treu geblieben. Der Kompromiss, den wir machen mussten, ist ein fester Stundenplan. Die Teilnahme an diesen Angeboten ist aber freiwillig.

Haben Sie ausreichend Anmeldungen?

Wir haben zwölf verbindliche Anmeldungen und, ich glaube, 47 so genannte Interessensbekundungen. Das sind so viele, wie wir brauchen, aber noch nicht so viele, wie wir uns gewünscht haben. Bei der Freien Schule in Verden war es ähnlich: Sie sind mit acht Schülern gestartet und nach den Herbstferien waren sie voll belegt.

Das Schulgeld ist nach Einkommen gestaffelt, beträgt aber mindestens 120 Euro im Monat. Ist es nicht ein Widerspruch zu Ihrem Anliegen, dass auf diese Weise eine soziale Selektion stattfindet?

Ja, das müssen wir uns am Anfang vorwerfen lassen. Aber in den ersten drei Jahren müssen wir uns komplett selbst finanzieren, da ist es nicht möglich, auf das Schulgeld zu verzichten. Wenn wir in fünf Jahren keine andere Lösung gefunden hätten, hätten wir ein ernsthaftes Problem. Zurzeit schreiben wir Stiftungen an, die das Schulgeld für Kinder übernehmen, um kostenfreie Plätze zu schaffen und damit auch eine andere Klientel anzusprechen.

Viele aus der Initiative kommen aus Bremen. Warum haben Sie sich für den Standort Oldenburg entschieden?

Da kamen zwei Gruppen zusammen: Die Bremer haben von der pädagogischen Seite her gearbeitet, die Oldenburger von der organisatorischen. In Bremen gibt es zur Zeit vier Initiativen, die Freie Schulen gründen wollen, aber ohne Aussicht auf Erfolg. Die Bildungssenatorin steht auf dem Standpunkt, dass es keinen Bedarf gebe, weil alle pädagogischen Möglichkeiten schon an anderen Schulen ausgeschöpft werden. Aber es gibt keine Schule, die alle Ansätze vereint.

Wie muss man sich so einen Schultag vorstellen, den jedes Kind selbst gestalten kann?

Es gibt einen Morgenkreis, in dem jedes Kind sagt, was es für sich oder gemeinsam mit anderen für den Tag geplant hat. Ob es das macht oder nicht, spielt erstmal keine Rolle, es soll nur am Ende des Tages wieder reflektiert werden.

Entscheiden sich die Kinder freiwillig dafür, Mathe oder Grammatik zu lernen?

Ja, schon. Lernen soll etwas Tolles sein. Es wird immer eingebunden in einen Kontext, der das Kind interessiert. An der Schule in Schweden, an der ich hospitiert habe, wollten die Kinder unbedingt einen Fitnesspfad durch den Wald bauen. Dafür mussten sie erstmal den Materialverbrauch und den Finanzierungsplan berechnen. Um Sponsoren zu werben, mussten sie ihr Projekt in einem Brief beschreiben. Dabei lernen sie die Kernkompetenzen. Sie können sich natürlich Hilfe bei älteren Kindern oder Erwachsenen holen.

■ die Freie Demokratische Schule Nordwest startet als Grundschule

geplant ist eine Erweiterung um eine Sekundarstufe I und einen Kindergarten zu erweitern

■ zum Konzept gehören altersgemischtes Lernen ohne Klassenverband und eine Offene Eingangsstufe

■ der Stoff der ersten beiden Schuljahre kann nach dem eigenen Lerntempo in einem, zwei oder drei Jahren gelernt werden

■ www.fds-ol.de

Und wenn jemand lieber Fußball spielen will?

Es gibt auch gute Gründe dafür, 14 Tage lang Fußball zu spielen. Aber man muss darüber reden. Das Kind muss reflektieren, dass es jetzt spielt und nicht lernt.

Sind die Kinder nach der vierten Klasse auf dem Stand der Regelschule?

Die Regelschule ist kein Vergleich, zumindest nicht bis zur vierten Klasse. Die Eltern müssen es ertragen können, dass die Kinder die Kernkompetenzen eventuell noch nicht beherrschen, und nicht etwa nachmittags mit ihnen Schule spielen. Trotzdem: Die Grundschule „Harmonie“ in Eitorf bei Köln zum Beispiel nimmt regelmäßig an Vergleichsstudien teil und schneidet dort sehr gut ab.

Besteht nicht die Gefahr, dass eine Art Parallelgesellschaft entsteht, die die Kinder auf die Anforderungen, die sie erwarten, nicht vorbereitet?

Wir versuchen, das Lernen durch Leistung aus dem Schulbetrieb herauszuhalten, aber trotzdem transparent zu machen: Was muss ich tun, um mein Ziel zu erreichen? Wir wollen die Kinder nicht so blauäugig in ihre Zukunft laufen lassen wie an vielen Regelschulen. Man kann mit Grundschülern schon darüber sprechen, was sie mal werden wollen und welche Leistung sie dafür erbringen müssen.