: Pillen Marke Eigenbau
ALTERNATIVE MEDIZIN Kristallisieren, fermentieren, rösten oder veraschen: Anthroposophische Medikamente werden individuell gefertigt. Manchmal darf es sogar Bienengift sein
VON GISELA EBERHARDT
Harfenklänge, Heileurythmie und Extrakte aus der Mistel – Krebsbekämpfung mittels Anthroposophie gilt Laien und Medizinern oft gleichermaßen als esoterischer Hokuspokus, über dessen Anwendung wertvolle Zeit für die Behandlung todkranker Patienten vergeht. Doch häufig sind solche Kritiker vor allem schlecht informiert. Denn die anthroposophische Heilkunde versteht sich keineswegs als Gegenentwurf zur Schulmedizin, sondern als eine Erweiterung mit alternativem Ansatz.
„Grundlage der Anthroposophischen Medizin ist die Individualität des Menschen“, erklärt die Pharmazeutin Sabine Kettemann, deren Apotheke im Zentrum von Stuttgart neben herkömmlichen auch anthroposophische Arzneien führt. „Das bedeutet zunächst: Gut ist, was dem Einzelnen hilft.“ Und das kann bei einem bösartigen Tumor natürlich auch Bestrahlung oder Chemotherapie sein.Die Anthroposophie nutzt zwar Mittel und Methoden der naturwissenschaftlich orientierten Medizin, doch sie hat den Anspruch, über die Heilung von Beschwerden weit hinauszugehen. Rudolf Steiner empfahl 1920 eine veränderte Perspektive auf Erkrankungen. Statt den Krankheitsprozess isoliert als „Abweichung vom normalen Lebensprozess“ zu betrachten, verlangte er, zu einer „durchgreifenden Anschauung über das Menschenwesen“ zu gelangen.
Die Verfechter der anthroposophischen Heilkunde wollen den Menschen in seiner Gesamtpersönlichkeit erfassen. Eigenschaften wie Körperbau und Körpersprache, Atmung, Schlafverhalten oder Kälte- und Wärmeempfindlichkeit sind nach der anthroposophischen Lehre bei jedem Menschen anders und werden bei der individuellen Therapie berücksichtigt.
Primäres Ziel der anthroposophischen Behandlung ist es, die Kräfte zur Selbstheilung zu aktivieren. So sieht auch das „Leitbild der Gesellschaft Anthroposophischer Apotheker in Deutschland e. V.“ eine wesentliche Aufgabe des Apothekers darin, dass „insbesondere die Eigengenesungskräfte anregende Arzneimittel den Patienten zur Verfügung stehen.“
Apothekerin Kettemann, selbst aktives Mitglied der Gesellschaft, veranschaulicht ihr Verständnis von Kraft und Krankheit in der Anthroposophie mit einem kriegerischen Bild. „Der Organismus baut mithilfe anthroposophischer Mittel Schutzmauern auf zur Vorbeugung, etwa gegen Infektionskrankheiten“, so Kettemann. „Kommt es dennoch zu einem ‚Angriff‘, wird der Mensch also krank, setzt er Arzneimittel als Waffen ein und versucht, sich selbst zu helfen. Schafft er es nicht, wird als ‚Verbündete‘ die Schulmedizin hinzugezogen.“ Gegen Rückfälle greifen in einer solchen Situation anschließend wieder anthroposophische Maßnahmen, um den Organismus zu stärken. Die Medizin der Anthroposophie ist nicht durch bestimmte Verfahren bei der Medikamentenherstellung definiert. Das unterscheidet sie von anderen naturheilkundlichen Verfahren wie der Homöopathie.
Analog zu dieser gründet zwar auch die Herstellung anthroposophischer Arzneimittel auf der Idee einer engen Verwandtschaft zwischen den Prozessen der Natur und jenen des menschlichen Organismus. Minerale, Pflanzenextrakte und tierische Organe, aber auch Gifte von Bienen, Hornissen und Ameisen können daher ebenso in den Heilmitteln enthalten sein wie Gold oder Silber. Homöopathische Mittel entstehen durch ein spezifisches Verfahren der Verdünnung, das schon seit mehr als hundert Jahren standardisiert ist. Anthroposophische Medikamente können dagegen auf sehr verschiedene Arten hergestellt werden, abhängig von den individuellen Erfordernissen des zu behandelnden Patienten. Kristallisieren, fermentieren, rösten oder „veraschen“ sind nur einige der zahlreichen Verfahren anthroposophischer Heilmittelproduktion.
Auch Zusammensetzung und Verabreichung der Arzneien erfolgen im anthroposophischen Kontext möglichst individuell. „Homöopathie ist dagegen eher eine Sache der Erfahrung“, verdeutlicht Sabine Kettemann. „Man muss auswendig lernen, welches Mittel bei welchen Beschwerden hilft. Die Arzneimittelfindung erfolgt hier gewissermaßen schematisch.“
Anthroposophische Medizin gilt in Deutschland gesetzlich als „besondere Therapieform“, deren Mittel verordnet werden dürfen – auch ohne dass für sie ein Wirksamkeitsnachweis erbracht wurde. Damit steht sie formal auf einer Stufe mit der Homöopathie. Für beide Alternativen zur Schulmedizin gilt, dass Erfolge bislang nur für wenige Anwendungen handfest belegt werden konnten.
Ihre naturwissenschaftlich orientierten Gegner werden ihre Meinung daher wohl in absehbarer Zeit nicht ändern, sondern es in Bezug auf die Anthroposophie mit dem Schriftsteller Mark Twain halten. Der skeptische Zeitgenosse spottete einst, die Erkenntnisse der Medizin ließen sich auf eine knappe Formel bringen: „Wasser, mäßig genossen, ist unschädlich.“