: Offene Ohren nach Norden
ZEITGENÖSSISCHE MUSIK Gibt es einen spezifischen „nordischen“ Klang in der zeitgenössischen Musik? Vier Tage lang rückt das Festival „Kieler Tage für Neue Musik“ des Projekts chiffren die „Neue Musik im Norden“ in den Fokus
VON ROBERT MATTHIES
Gibt es einen spezifisch „nordischen“ Klang in der zeitgenössischen Musik? Welchen Einfluss haben unterschiedliche Traditionen auf die Entwicklung der Neuen Musik? Und wie wirken sie sich auf deren Akzeptanz beim Publikum aus? Zum ersten Mal ausdrücklich über die Landesgrenzen hinaus richten ab heute die „Kieler Tage für Neue Musik“ des schleswig-holsteinischen Projekts Chiffren ihre offenen Ohren: Bis Sonntag steht in der Kieler Halle400 mit Konzerten, Komponistengesprächen, einer Podiumsdiskussion und Workshops ausdrücklich Neue Musik aus Skandinavien im Zentrum.
Der wohl zwangsläufige nächste Schritt für die seit sechs Jahren von dem vom Verein Forum für zeitgenössische Musik, dem Land Schleswig-Holstein und der Landeshauptstadt getragenen Projekt veranstaltete Neue-Musik-Biennale. Denn die betreibt die immer noch schwierige Vermittlung Neuer Musik mit beachtlichem Erfolg: Von der Kieler Stadtgalerie zogen die Avantgarde-Vermittler schon mit der zweiten Auflage in die Halle400 um, riefen die Vortragsreihe „Crescendo“, den Lehrer_innen-Workshop „Tuchfühlung“ und den Musikschulen-Workshop „Vibrations“ ins Leben, zwei Jahre später wurde das Festival um zwei Tage erweitert, nun bekommt es ausdrücklich eine internationale Ausrichtung.
Zu hören sein wird dabei naturgemäß auch dieses Jahr nicht nur „nordische“ Musik. Denn dass Neue Musik im Grunde ohnehin keine „Heimat“ haben kann, wird schon beim Auftakt heute Abend deutlich: Das fünfzehnköpfige Freiburger Ensemble Aventure folgt bereits seit über 25 Jahren dem Motiv, Bewährtes und radikal Neues, Tradition und Avantgarde in Epochen und Kulturen übergreifenden Programmen zu vereinen. Es spielt Werke der Zweiten Wiener Schule ebenso wie der amerikanischen Avantgarde, verbindet Dada, Fluxus und Konzeptkunst mit kritischem Komponieren, den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik und aktuellen Werken jüngerer Komponist_innen. Und nimmt dabei immer wieder auch Vergessenes und Verdrängtes – Werke politisch verfolgter Künstler oder die Neue Musik Lateinamerikas – in den Blick.
Auf dem Programm stehen hier heute Abend neben aktuelleren Arbeiten der jungen estnischen Komponistin Helena Tulve, der Argentinierin Natalia Solomonoff oder Oliver Kortes „rien nul – Musik für Samuel Beckett“ auch alte Avantgarde-Hasen: von John Cage ertönt die „Winter Music“ – die außerdem deutlich macht, wie schwierig es einstweilen ist, für Neue Musik ein Publikum zu finden: 1963 musste das radikale Klavierstück in Oldenburg noch unter Polizeischutz aufgeführt werden.
Ausdrücklich „nordisch“ wird es hingegen beim ersten Deutschland-Auftritt des schwedischen KammarensembleN, das seit 1984 ausschließlich zeitgenössische Kammermusik von modernen Komponist_innen aufführt und damit eine zentrale Rolle in der Etablierung zeitgenössischer Musik in Schweden gespielt hat. Zu hören gibt es morgen Abend Werke der Schweden Per Mårtensson, Ivo Nilsson und Chrichan Larson, des Norwegers Jon Øivind Ness und der Finnin Lotta Wennäkoski.
Ob man in Norwegen auch anders improvisiert, kann man im Anschluss daran im Kulturforum der Stadtgalerie herausfinden: das norwegische Quartett SPUNK bringt zwar siebzehn Jahre Spielerfahrung mit. Neu hinzu kommt allerdings jedes Mal das immer andere fünfte Mitglied: der Raum, dessen Körper, Klang, Licht und Geruch ganz spontan zum gleichberechtigten Mitspieler wird.
Zu hören sind bei der vierten Ausgabe der Kieler Tage für Neue Musik außerdem der Pianist Elmar Schrammel mit Morton Feldmans „Triadic Memories“, das Hamburger ensemble Intégrales mit aktuellen Arbeiten von Matthew Burtner, John Luther Adams, Burkhard Friedrich, Jennifer Walshe, Alexander Schubert und Christopher Fox und beim Matinee „Junge Musik“ Studierende der Musikhochschule Lübeck und des Kongelige Danske Musikkonservatorium Kopenhagen.
■ Kiel: Do, 9. 2. bis So, 12. 2., Halle 400, An der Halle 400; Infos und Programm unter www.chiffren.de
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