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Archiv-Artikel

Der Bettler

„Früher habe ich gedacht, es wäre das Beste, jeder würde einen Obdachlosen mit nach Hause nehmen“„Lassen wir durch die Musik unsere Herzen erreichen“, predigt der Oberbürgermeister

AUS DÜSSELDORF GEORG LÖWISCH

Heute ist Beckmanns Geburtstag. Er sitzt an seinem Küchentisch und frühstückt ein Brot mit Schinken aus der Packung. Es ist nach eins, gestern Abend ist es wieder spät geworden. Er brüht sich einen Nescafé auf der Anrichte. Beckmann ist jetzt 48 Jahre alt. Er ist ein guter Cellist geworden. Er hat eine Küche, die früher das Musizierzimmer von Clara Schumann war. Er hat eine Million Euro für Obdachlose gesammelt. Seine Gesichtsfarbe ist ungesund, und er kann schlecht einschlafen.

„Früher habe ich immer gedacht, es wäre das Beste, jeder würde sich einen Obdachlosen von der Straße mit nach Hause nehmen“, sagt er. Er weiß inzwischen, das das nicht funktioniert. Er ist Profi geworden. Thomas Beckmann steht für eine der wenigen Methoden, Spenden für Notleidende locker zu machen, die nicht Opfer einer Naturkatastrophe oder eines Krieges sind, sondern zum Alltag gehören: Er rührt die Spender mit seinen Geschichten und seiner Musik an. Etwas Tragik, ein Kulturerlebnis und am Ende haben alle was Gutes getan.

Beckmann mag tragische Bilder. Sie gehören zum Cello. Bei der Geige stellt man sich elegante Tänzer vor. Das Cello ist sperrig und melancholisch. „Sein Celloklang rührt bis tief ins Herz hinein“, schrieb die Welt. Beckmann lässt den Seufzer seitdem auf seine Plakate drucken. Das Herz, das Cello. Nicht nur Beckmann, auch die Katastrophenhilfe der Diakonie wirbt mit diesem Bild: Ein Mann mit seinem Cello in den Trümmern von Sarajevo – Trauer und Hoffnung inmitten des Abgrundes.

Beckmann beschäftigen diese Abgründe. „Ich hatte immer Ängste, mein Leben lang“, sagt er. Als Schüler habe er in den Freistunden die Obdachlosen auf der Straße gesehen. „Ich habe mich immer gefragt, was ist, wenn ich mal so da sitze?“ Er redet über Freiberufler, die so leicht abstürzen können, und über die Gefahr, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Es gefällt ihm natürlich auch. Das Bild vom Künstler, der an der Grenze zum Wahnsinn kratzt, solche Sachen. Größenwahn und Untergang, all diese Dinge. Was wäre wenn? Wenn sich alles umdreht. Manchmal spricht er davon, als wäre der Abgrund ein Flirt, auf den er sich irgendwann einmal einlassen könnte.

Auf dem Weg zum nächsten Konzert. Den Wagen steuert eine Düsseldorfer Malerin, die bei Beckmanns Obdachlosenprojekt mitmacht. Sie findet ihn super. Beckmann kommandiert sie ein bisschen rum, obwohl ein Navigationssystem eingeschaltet ist. Er wirkt nervös. „Das klappt schon alles, das klappt schon“, sagt er. Auf der Rückbank sitzt seine Haushälterin und schweigt. Neben ihr lehnt das Cello. Beckmanns Patensohn Jörn hat es vor der Abfahrt angeschnallt, er macht beim Hilfsprojekt ein Praktikum. Er musste in Düsseldorf bleiben. „Der wäre bestimmt gern mitgefahren“, meint die Malerin am Steuer. „Der Jörn soll sich ruhig mal weiter bewerben“, herrscht Beckmann sie vom Beifahrersitz an. „Bleiben sie auf der linken Spur“, diktiert die Navigationsstimme.

Es geht nach Dortmund. Er gibt in diesem Monat fast pausenlos Konzerte. St. Nikolaus in Kiel, St. Johannes in Würzburg, Erlöserkirche Essen, 23 Auftritte in 24 Tagen. An jedem Ort hilft eine Gruppe Engagierter. An diesem Abend ist es die Reinoldikirche in Dortmund, die Gruppe sammelt für eine Krankenschwester, die Arme behandelt. Das gesamte Projekt hat Beckmann „Gemeinsam gegen Kälte“ genannt, weil er es in Düsseldorf gegründet hat, nachdem 1993 zwei Frauen in der Altstadt erfroren waren. „Wenn da einer ohne Schlafsack lag, haben die hinter den getönten Scheiben die Austern geknackt und nichts gemacht.“

Inzwischen gibt es „Gemeinsam gegen Kälte“ in 60 deutschen Städten, Unternehmerverbände und der DGB machen mit, Richard von Weizsäcker sitzt im Beirat. Das Projekt ist ein Selbstläufer – wegen Beckmann. Weil das Cello so gut auf das traurige Thema passt. Weil er die Augen zu einem Lächeln zusammenkneifen kann wie Charlie Chaplin. Und weil er einen Instinkt für Geschichten hat. Etwa die, dass er ehrenhalber im Haus von Clara und Robert Schumann in Düsseldorf wohnt. Dass er als Student zwei Obdachlose in seiner Wohnung übernachten ließ. Dass Roman Herzog die Formulierung mit dem Ruck von ihm hat. Er erzählt diese Geschichten oder sie stehen auf seiner Internetseite oder in der Lokalzeitung am Konzertort oder im Veranstaltungsprogramm.

Auch die Geschichte vom Autounfall in Belgien, in dem er und seine Frau verwickelt waren. „Als wir am Straßenrand standen, nachts um zwölf, bei minus zwölf Grad, mit Benzin durchnässt und einem das Leben neu geschenkt wurde, da haben wir uns gefragt, was haben wir gut gemacht? Und das Obdachlosenprojekt war etwas Gutes.“ Danach beschlossen sie das Projekt auf ganz Deutschland auszuweiten.

Die Kirche in Dortmund ist voll wie an Heiligabend. Familien, Rentner, einige junge Paare. Bevor Beckmann beginnt, treten die Diakonie-Geschäftsführerin, der Oberbürgermeister und ein Mann vom Lions Club auf. „Lassen wir durch die Musik unsere Herzen erreichen“, predigt der Oberbürgermeister. „Musik erwärmt die Herzen“, verkündet der Lions-Club-Mann. „Viele Menschen sollten sich vom Bazillus der Hilfsbereitschaft anstecken lassen.“

Beckmann zupft am Frack, setzt sich auf seinen Stuhl im Altarraum der gotischen Kirche, hoch über ihm hängt ein Holzkreuz. Das Programm sind Solosuiten von Bach, je länger er spielt, desto besser finden er und das Publikum in die Musik hinein. Er hat die Augen geschlossen. Die linke Hand klettert über das Griffbrett, mit der rechten führt er den Bogen in fließenden Bewegungen. Wenn er eine musikalische Phrase gespielt hat, stößt er die Luft mit offenem Mund aus. Der Schweiß rinnt ihm die Wangen herunter, der Kopf ist zurückgelehnt und schwingt hin und her. Wie ein Junge im Traum.

Nach dem Konzert, am Auto ist er entspannt, das Gesicht rosig wie nach einer Sauna. „Ich fühl mich, als hätt ich geboxt“, verkündet er und zieht Luft ein. Ein Mann, er riecht nach Alkohol und seine Brille ist verbogen, tapst eilig auf ihn zu, um ihm den Weg zu erklären. „Ich war nämlich selbst früher mit dem Lkw unterwegs.“ Beckmann dankt, verrät nicht, dass er einen Navigator hat. Schwester Margarete und die anderen Helferinnen bekommen noch CDs. Eine Dame von der Projektgruppe bedankt sich und fragt, wie es seiner Frau gehe. Beckmann kneift die Augen zusammen und schüttelt den Kopf.

Seine Frau heißt Kayoko Matsushita. Sie ist eine japanische Pianistin, die nach Deutschland kam, weil sie die Musik Robert Schumanns verehrt. Beckmann und sie haben sich vor über zwanzig Jahren auf der Musikschule kennen gelernt. Sie haben zu Stummfilmen von Chaplin gespielt und waren als Duo erfolgreich. Eine Beckmann-Geschichte. Aber im Sommer 2002 ist sie nach einer Tournee zusammengebrochen. „Sie hat Wellen im Boden gesehen“, sagt er. Sie dachten, es wäre ein Nervenzusammenbruch. Spezialisten in Japan haben dann diagnostiziert, dass nach dem Autounfall Risse in ihrer Hirnhaut entstanden sind. Deshalb hat sie Kopfschmerzen, Seh-, Gleichgewichts- und Fokussierungsstörungen, Beckmann sagt: „Kayo ist noch sehr schwach.“

Sie wird seit Monaten in Tokio behandelt. Die Therapie ist teuer, ihre Gagen fallen aus. Beckmann spielt allein. Von seinem Hilfsverein lässt er sich inzwischen eine Vergütung fürs Organisieren der Tournee zahlen. Bei seinen Konzerten liegt eine Liste aus, in die sich Interessenten für Unterricht eintragen können. Fragt man ihn, was mit seinen Auftritten als hauptberuflicher Konzertcellist ist, wenn er nicht für Obdachlose spielt, sagt er: „Die großen Konzerte kann man nur im Winter geben, und da mach ich die Benefiztourneen.“

Er ist einer, der den Abgrund sucht und der gleichzeitig gegen ihn kämpft.

Über der Autobahn nach Dortmund wird es dunkel. Er sitzt hinten, aufgekratzt. Die Kirche war voll, fast 500 Menschen. In der einen Hand hält er eine Dose Köstritzer, mit der anderen das Cello. Gerade erzählt er schon wieder eine Beckmann-Geschichte. Sein Vater war ein katholischer Bauernsohn, der sich bis zum Ministerialbeamten hochgearbeitet hat. Alle vier Kinder lernten ein Instrument, er hat Beckmann das Cello gekauft. Es ist von Gudagnini, einem Mailänder Geigenbauer – fast so berühmt wie Stradivari. Der Händler sagte, das Instrument habe er im Ostblock aufgetrieben. „Es hat einem Clochard in Paris gehört, der hatte nichts mehr, aber das Cello hat er bis zu seinem Tod nicht verkauft.“ Durch Beckmanns Autounfall wurde das Cello schwer beschädigt. „Als es dann geöffnet wurde hat sich im Inneren diese Inschrift gefunden: Il Mendicante, der Bettler.“

Beckmann wartet auf diese eine Frage. Was würde er mit dem Instrument machen, wenn er abstürzt? Er blickt ernst drein. „Das Cello werd ich nie weggeben“, sagt er. Das Cello und er. Beckmann liebt dieses Bild.