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Archiv-Artikel

Der schwankende Hintergrund

Erkundungen für die Präzisierung der Gefühle rund um einen Aufstand (8): Stimmt eigentlich die gängige Geschichtsdeutung, die 68 als Siegeszug der Linken interpretiert? Jedenfalls hat so eine linke Interpretation allein nicht die Mittel, der historischen Figur Rudi Dutschke ganz gerecht zu werden

■ Muss, wer Rudi Dutschke sagt, auch Gewalt sagen? Um diese Frage ist eine Debatte entbrannt, die auch ein aktuelles politisches und gesellschaftliches Selbst-verständnis betrifft: Wie viel Abgrenzung von 68 muss, wie viel Anlehnung soll sein? Eine Essayreihe über den langen Marsch durch die Deutungen einer Revolte

VON JÜRGEN BUSCHE

Rudi Dutschke war der Studentenführer mit dem größten Charisma. Er wurde zur Symbolfigur der Geschichte, über die man unter Verwendung der Chiffre „68“ zu streiten pflegt. War er eine repräsentative Figur der 68er? Was wäre aus ihm geworden, wenn nicht das Attentat sein Leben verändert und seinen frühen Tod verursacht hätte? Darüber können sich die Deuter der Geschichte nicht einig werden. Dabei schwankt nicht das Bild, das man von ihm hat. Eher könnte man sagen, der Hintergrund dazu ist uneindeutig. Zu jeder der bekannten Interpretationen von 68 kann Dutschke passen, er kann auch die Widersprüche, die sie unvereinbar machen, in seiner Person zum Ausgleich bringen. Aber es geht in dem Streit oft nicht um seine Person, es geht um die Deutungskompetenz über einen wichtigen Abschnitt westdeutscher Geschichte.

Man kann die 68er-Revolte als Ereignisgeschichte beschreiben, was etwa Uwe Wesel in seinem Buch „Die verspielte Generation“ überzeugend getan hat. Und man kann sie als Geschichte einer Generation beschreiben, wozu es verschiedene Ansätze gibt und was dem Sprachgebrauch, aber wohl auch der Wahrnehmung der Älteren und Jüngeren bis heute entspricht. Eine erhebliche Rolle dabei spielt politischer Ehrgeiz, der den Deutungsanspruch konditioniert.

Die Chiffre „68“ für Ereignisgeschichte behauptet am direktesten, von einem Siegeszug der Linken zu sprechen. Begleitet und bestätigt wird dies durch das gleichzeitige Aufkommen dessen, was man später die Suhrkamp-Kultur nannte: kulturelle Hegemonie im Land der Dichter und Denker nicht im Namen Hermann Hesses, sondern Adornos und Brechts. Solche Deutung hat mit der Schwierigkeit zu tun, dass die Protagonisten sich nicht auf eine Altersgruppe beschränken lassen. Bloch und Herbert Marcuse wären dann 68er, zwei Philosophen die den Gipfelpunkt ihrer Wirksamkeit als Greise in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts erreicht hätten. Aber auch andere, Alexander Kluge, Oskar Negt, Otto Schily, auch Horst Mahler, H. M. Enzensberger, Martin Walser, ebenso Peter Stein wären dann – wenigstens zeitweise – 68er gewesen. Zur Vorstellung einer gewissen Repräsentanz, die man Dutschke attestieren muss, müsste bei Letzteren lediglich bemerkt werden, dass sich die Älteren von der Studentenbewegung hätten mitreißen lassen; die viel Älteren aber seien von den Studenten gleichsam für ihre Bewegung kooptiert worden, Ausdruck auch für die Verachtung für die Generation der Väter, die nicht wenige der Studenten von 1968 empfanden. Die herzliche Zuneigung, die Bloch und Dutschke miteinander verband, beglaubigt dies.

Dagegen ist freilich einzuwenden, dass 1968 keineswegs alle Studenten links waren, auch wenn die Linken viele Szenen des studentischen Lebens beherrschten. Auch sind die Genies, die aus der Masse der Studenten von 1968 hervorgegangen sind, überhaupt nicht zu Galionsfiguren einer linken Leitkultur geworden: der Suhrkamp-Autor Peter Sloterdijk nicht, auch wenn er sich in seinem Zynismus-Buch über Noske in heftigstem 68er-Stil äußert, erst recht nicht Botho Strauß, auch wenn dieser sich einst im Mai schwärmerisch über das Arbeitertheater äußerte. Und Rainer Werner Fassbinder knüpfte mit seinen reifen Filmen dort an, wo ein intellektueller Regisseur wie Alexander Kluge Anfang der 60er-Jahre entschieden hatte Schluss machen wollen.

Die Reihe ließe sich lange fortsetzen. Sie bietet Einzelfälle, aber eben Konkretes. Allgemein darf man sagen, dass die 68er in der Bevölkerung zwar mit linkem Gedankengut identifiziert werden, dass damit aber gedankenlos alle gemeint sind und tatsächlich auf einen Lebensstil gezielt wird, der Ältere und Jüngere provoziert, verärgert, empört. Solche Auffassung erzwingt, das Gemeinsame der Generation in früheren Prägungen zu suchen, Prägungen die fast allen gemeinsam sind. Zu Dutschke passt dies mit seiner nach der Erschütterung durch Nazidiktatur und Krieg extrem christlichen Erziehung, die ihn noch umschlossen hielt in einem Alter, in dem heutige Oberschüler das für unmöglich halten würden. Es passt mit der harten Erziehung, was körperliche Ertüchtigung anging mit dem Ziel Leistungssport, es passt mit den Erfahrungen der Desillusionierung in den 60er-Jahren, es passt mit dem Weg zur Rebellion über die Rebellion in der Kunst, in künstlerisch orientierten Gruppen. In dieser Perspektive ist das Linke eher zufällig; dass es bald bei Dutschke bestimmend wird, hat individuelle Gründe, andere trafen andere Entscheidungen.

In die 68er-Bewegung, wie sie in Dutschke ihren bekanntesten Wortführer hatte, waren schmale altlinke Strömungen eingedrungen und hatten gewaltige Wirkung getan. Zu diesen stand Dutschke in Distanz, wo nicht – im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) – in Konkurrenz. Aus der 68er-Zeit gingen wieder sich orthodox gebende linke Strömungen hervor, die ebenso schmal waren und rasch versickerten. Immerhin vermochten sie in den 70er-Jahren einen Come-back-Versuch Dutschkes zu erschweren.

Um die 68er Bewegung als historische Leistung der Linken glaubhafter zu machen, hat man versucht, die Generation breiter zu fassen und auch Jahrgänge der späten 30er-Jahre mit hineinzunehmen. Das ist nicht nur methodisch falsch, sondern auch heuristisch irreführend. Zur Studentenbewegung ist vernünftigerweise nur zu zählen, wer in den entscheidenden Jahren Student war, was nicht nur eine mentale Frage oder eine solche des souverän gewählten Engagements ist, sondern eine existenzielle im Sinne von die Existenzbedingung – das tägliche Leben zwischen Klausur, Seminarreferat und Prüfungserwartung – und die Sicherung des Lebensstandards betreffend. Das heißt, zur Studentenbewegung können nur die gezählt werden, die zwischen 1961 und 1971 in der Hauptsache Studenten waren, nicht Assistenten, Rechtsanwälte, Studienreferendare oder Jungärzte. Diese Studenten sind die 68er-Generation – mit allen Widersprüchen, die sich auch in Dutschke finden.

Die Studentenbewegung begann, das wird vom linken Standpunkt her gern übersehen, mit ironischen Attacken auf das Ernsthaftigkeitstheater des Obrigkeitsstaates der damals noch allenthalben regierenden Großväter. Das spielte vom Ulk zur sarkastischen Provokation hinüber. Zu denen, die daran beteiligt waren, gehörte auch Dutschke. Aber fast jede Universität in Deutschland kennt Ereignisse dieser Art aus der Anfangszeit der Studentenbewegung. In Frankfurt am Main etwa wurden dem Professor und SPD-Politiker Carlo Schmid während der Vorlesung fortwährend Büroklammern zum Katheder getragen und auf dem Pult abgelegt. Der überfüllte Hörsaal sah gebannt und amüsiert zu. Oft reagierten die derart ironisch herausgeforderten Autoritäten überzogen und unter Aufbietung ihrer institutionellen Gewalt. Das führte zu Eskalationen. Aus dem Go-in, dem Sit-in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wurde die Inanspruchnahme von Hörsälen über Tage und Nächte hinweg, wurden Institutsbesetzungen. Dagegen wurde Polizei aufgeboten, das führte zu Konfrontationen, die alsbald eine neue Eigengesetzlichkeit entwickelten. Was sich im universitären Bereich abspielte, begab sich zeitgleich auf den Straßen im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, gegen Unterdrückung in der Dritten Welt, gegen die Notstandsgesetze.

Die Gewalt, die immer häufiger zum Ausbruch kam, folgte nicht einem wie auch immer revolutionären oder revolteartigen Kalkül, sondern entsprang Situationen, in denen sich die Beteiligten in ihrem Selbstbewusstsein herausgefordert fühlten, wobei die Studenten, nicht zuletzt Leute wie Rudi Dutschke, durchaus elitäre Züge erkennen ließen: Man hatte viel gelesen, viel Theorie studiert und forderte dies autoritär von seinen Gesprächspartnern. Man nahm die moralische Seite des eigenen Engagements sehr ernst und reagierte empfindlich auf Indolenz oder Amoral. Man hielt sich viel zugute auf körperliche Widerstandsfähigkeit und Mut bei Regelverletzungen und drohender Polizeigewalt. So schwach die 68er bei internen Konflikten gegenüber dem Gruppendruck waren, so stark fühlten sie sich, wenn sie mit der Gruppe gegen Leute standen, deren Unrecht für sie offen zu Tage lag.

So waren viele 68er links, weil der Gegner rechts war. Und dies hielt sich. Bei der heute wieder entbrannten Diskussion über die Sympathisanten der Terroristen aus der Roten-Armee-Fraktion, gerade auch solcher aus der Studentenbewegung, wird weithin übersehen, dass Misstrauen gegenüber einer allen Entnazifizierungsbemühungen entgangenen Justiz das Misstrauen gegenüber den Gerichtsverfahren nährten und lebendig hielten. So vor allem anderen ist der Gruß Dutschkes am Grab des in der Haft aufgrund eines Hungerstreiks gestorbenen Holger Meins zu verstehen: „Der Kampf geht weiter.“ Meins war Student an der Filmhochschule gewesen.

Dutschke hat es immer abgelehnt, sich darüber zu verbreiten, wie die Welt nach gewonnenem Kampf, nach einer Revolution gar, aussehen könnte. Das, meinte er, könne man erst sagen, wenn die dann ans Licht kommenden Verhältnisse es erlaubten. Das war den Realisten in Deutschland, auch denen mit linken Neigungen, zu wenig. Doch umgekehrt: Eine linke Interpretation der Geschichte muss Dutschke zwar auf der Rechnung haben, sie allein aber hat nicht die Mittel, Dutschke gerecht zu werden. Es ist ein Augenblick der Geschichte, den er gehabt hat. Das Attentat, das seine Gesundheit zerstörte, hat verhindert, dass er über diesen Augenblick hinaus die Geschichte seiner Zeit mitgestalten konnte.

Der Autor lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. – Die Dutschke-Debatte wird nächste Woche fortgesetzt.