: „Nur noch wild geballert“
Heute vor zwei Jahren starben in Erfurt 16 Menschen durch die Hand von Robert Steinhäuser. Noch immer liegen die Hintergründe der Tat im Dunkeln. Der Autor Jens Becker glaubt zu wissen, warum
INTERVIEW HENNING KOBER
taz: Herr Becker, in Ihrem Buch erzählen Beteiligte, wie sie den 26. April 2002 erlebt haben. Sie selbst beschreiben die Hinterbliebenen als „die eigentlichen Opfer“. Wie überlebt man so ein einschneidendes Erlebnis?
Jens Becker: Mit schweren Schäden, die erst mal nicht sichtbar sind. Diese Menschen verhalten sich unauffällig, aber sie haben eine Wunde in sich, die sich nie ganz schließen wird.
Haben die Therapeuten ihren Job gut gemacht?
Wenn man die Ausgangslage bedenkt, ja. Am Anfang gab es in Erfurt genau eine Traumatherapeutin. Die Psychologen haben alle bei null angefangen. Aber sie haben sich in kürzester Zeit eingelesen und dann weit mehr gemacht, als sie gegenüber der Unfallkasse abrechnen konnten.
Die Hintergründe der Tat sind teilweise noch immer unklar. Auf weitere Nachforschungen wird verzichtet, um die Hinterbliebenen zu schonen.
Bis auf zwei oder drei wollen alle, dass weiter aufgeklärt wird. Ihr Problem ist, nicht zu wissen, wie ihre Angehörigen ums Leben gekommen sind.
Warum wird nicht von einem geplanten Massenmord, sondern weiter von einem Amoklauf gesprochen?
Weil man dann auch die Frage nach Fehlern und Schuld stellen müsste. Bei diesem Polizeieinsatz ist alles schief gegangen, was nur irgendwie schief gehen konnte. Alle Beteiligten sind verängstigt, persönlich haftbar gemacht zu werden. Dabei hat Eric Langer (Anwalt und Hinterbliebener; Anm. d. Red.) immer gesagt, er zieht seine Klage sofort zurück, wenn das Katastrophenschutzgesetz geändert wird. Das ist nicht passiert.
Sein Schulgesetz immerhin hat Thüringen geändert.
Die Veränderungen sind lächerlich. Bisher war es so, dass sich die Schule nicht direkt an die Eltern von erwachsenen Schülern wenden darf, wegen des Datenschutzes. Jetzt gibt die Schule dem Schüler einen Brief an die Eltern mit. Wird der nicht beantwortet, kann sie die Eltern direkt anschreiben.
Letztes Jahr wurde bekannt, dass der Schulverweis Steinhäusers nicht rechtmäßig war. Wie geht die Schulleiterin Christiane Alt damit um?
Sie spricht nicht drüber. Im Kollegium ist das ein großes Thema, hinter vorgehaltener Hand. Für mich bleibt Steinhäuser ein Massenmörder, auch wenn er vorher in einer Opferrolle war.
Die von der Landesregierung eingerichtete Kommission sollte alle Vorgänge prüfen, die „in der Öffentlichkeit diskutiert werden“. Ein falscher Ansatz?
Die Kommission wurde eingerichtet, nachdem Ines Geipels Buch erschienen war und Eric Langer seine Anzeige gestellt hat. Der Bericht der Kommission ist in vielen Bereichen verlogen und feige. Zum Beispiel wird nicht darauf eingegangen, dass es keine einheitliche Kommandozentrale gab. Die Scharfschützen auf dem Dach haben sehr wohl gesehen, dass auf dem Parkplatz eine verletzte Lehrerin liegt. Aber es gab keine Funkverbindung zur Polizei, die die Frau mit ihrem Panzerfahrzeug hätte bergen können. Auch fragt der Bericht nicht, wer und warum die Todeszeitpunkte in den Obduktionsberichten gefälscht hat. Was nicht sein darf, wird weggeschwiegen.
Gibt es inzwischen Hinweise auf die genauen Motive von Robert Steinhäuser?
Er wollte Frau Alt erschießen. Das war sein erster Gang. Sie hatte sich eingeschlossen. Er dachte, sie ist nicht da. Sie hat er für sein Scheitern verantwortlich gemacht. Offenbar hatte er die Energie, so viele Lehrer wie möglich zu ermorden. Im weiteren Verlauf hat er dann nur noch wild geballert und in Kauf genommen, auch Lehrer, die er nicht kannte, und Kinder zu treffen.
Warum recherchieren die Medien nicht weiter?
Inzwischen sind so viele andere Katastrophen passiert … der Medientross zieht weiter.
Werden wir die Hintergründe der Tat jemals kennen?
Es wird schwierig, die Legende ist in der Welt. Staatsanwaltschaft und Polizei wollen nicht weiter aufklären, denn dann müssten sie über die bisherigen Vertuschungen sprechen. Deshalb habe ich die Anzeige von Langer Wort für Wort in mein Buch aufgenommen, denn das wird in zwanzig Jahren noch in Bibliotheken stehen. Denn der Umgang des Landes Thüringen mit den Opfern und Hinterbliebenen soll nicht einfach vergessen werden.