Als Kreuzberg auf dem Planeten Kobaïa lag

EINFLUSS Vorbild für die Westberliner Postpunks MDK: Die französischen Progrocker Magma veröffentlichen eine Werkschau

MDK waren anarchistisch, politisch, agitatorisch – eine der radikalsten Bands der frühen 80er

VON ANDREAS HARTMANN

Neue Jugendbewegungen wie Emo und Visual Kei handeln vor allem von der eigenen Subjektwerdung, darum, sich selbst neu zu entwerfen, zur Fantasyfigur zu werden oder zum Mangacharakter.

Auch in diesem Sinne war die französische Band Magma, die nun dank einer fulminanten Werkschau auf zwölf CDs neu zu entdecken ist, schon immer Avantgarde.

Magma entwarfen bereits in den Siebzigern beeindruckende virtuelle Welten und konzeptualisierten ein Rocktheater, das vom Leben auf fiktiven Planeten handelte. Die Band begnügte sich nicht damit, eine andersartige, entgrenzte, so vorher nie gehörte Rockmusik zu entwickeln, die afrofuturistischem Jazz genauso viel verdankt wie Chorwerken von Carl Orff. Magma boten dazu gleich einen eigenen Kosmos an, in dem Science-Fiction und Esoterik zusammenfielen. Und das nicht im Sinne eines geschlossenen Kunstwerks, sondern als Angebot zum Mitmachen.

Himmlische Musik

Sie schufen eine eigene Kunstsprache, das Kobaïanisch der Bewohner von Kobaïa, in der gesungen wird und die von Magma-Fans bis heute gepflegt wird. Außerdem geht auf Magma eine ganze Musikrichtung zurück, das sogenannte Zeuth, das sich dem philosophischen und musikalischen Erbe der französischen Band verpflichtet fühlt und auf das sich ein paar randständige Prog-Bands bis heute berufen. Zeuth ist kobaïanisch und heißt so viel wie „himmlische Musik“.

Ist das alles bloß ein großer Mummenschanz für Science-Fiction-Nerds und Spielzeugfigurensammler oder doch der geniale Versuch, Musik schlüssig grenzenlos zu überhöhen? Tatsache ist, dass es dieses schillernde Gewächs der Siebziger nie über den Status einer Kultband hinausgebracht hat und damit eine Angelegenheit für Eingeweihte geblieben ist.

Das Werk ist unübersichtlich, verteilt auf unzähligen Studio- und Livealben. Die vorliegende „Studio Zünd“-Box deckt nur den wichtigsten Teil des Oeuvres ab, konzentriert sich auf die Siebziger, die produktivste Phase der Band, die im Oktober in London 40-jähriges Bühnenjubiläum feiern wird. Die Besetzung von Magma rotierte beständig. Das reicht von Soloprojekten des Magma-Schlagzeugers Christian Vander, der uneingeschränkt wichtigsten Figur der Band, bis hin zu zwölfköpfigen Kollektiven. Musiker stiegen bei Magma ein und aus und prägen die französische Pop- und Jazzszene bis heute. So wurde eben unter dem Namen Don Faton die Fusionjazz-Platte „Coeurs à Corps“ des ehemaligen Magma-Pianisten Faton Cahen veröffentlicht. Magma ist somit wohl eher ein Projekt der offenen Form, mehr Prinzip denn Band und bei diesem Prinzip gibt es nur eine echte Konstante, Vander und wechselnde Figuren, die sich um die Konstante herumgruppieren.

Und erst diese Musik! Dieses Röcheln und Fauchen, Zischeln und Wummern! Einerseits ist Magma-Rock ein typisches Produkt der Siebziger, mit endlosen, manchmal nervtötenden Dudel- und Soloparts, oft theatralisch und wagnerianisch bis zur Groteske, dann aber auch wieder musikalisch so dicht, so atemberaubend abwechslungsreich mit seinen splitternden Free-Jazz-Kaskaden und plötzlich den Raum ins Endlose erweiternden Chorelementen. Was ist das für eine Klangwelt, denkt man sich immer wieder beim Studium von „Studio Zünd“, kann einem das mal jemand erklären?

Kreuzberger Punkmagma

Wir geben der Einfachheit halber ab an Volker Hauptvogel, der in der ersten Hälfte der Achtziger Sänger der Kreuzberger Postpunkband Mekanik Destruktiw Kommandöh war. Sie nannten sich nach einem Schlüsselalbum Magmas aus dem Jahr 1973. Hauptvogel sagt über die Musik von Magma so schöne Sachen wie: „Magma ist eben wie Magma, mal brodelt es, mal ist es fest.“ Hauptvogel hat sogar Notizen mitgebracht in das Kreuzberger Café, wo wir uns verabredet haben: „Animalische Brutalität, dem Heavy Metal weit überlegen“ steht da geschrieben. „Musikalischer Anarchismus sowie rhythmische Kompositionen, die gleich hoch einzuschätzen sind wie die von Stravinsky oder Bartók.“

Hauptvogel ist heute so sehr besessen von Magma wie damals, als er Punker war und die Welt, zumindest aber Kreuzberg verändern wollte. Schon mit 14 hat er die Franzosen gehört, die, den Freejazz von Peter Brötzmann und deutsche Elektronik wie Tangerine Dream. „Wir wollten die ganze Rockscheiße nicht“, sagt er.

Seine Band blieb nur eine Randnotiz des deutschen Postpunk. In Jürgen Teipels Standardwerk „Verschwende Deine Jugend“ werden MDK nur kurz erwähnt. Aber immerhin veröffentlichten sie damals beim wichtigsten Label der Bewegung, bei ZickZack in Hamburg und tourten sogar durch die USA; die Ärzte, die sich damals noch Soilent Grün nannten, seien Fans der Band gewesen, so Hauptvogel, genauso wie der spätere Love-Parade-Erfinder Dr. Motte.

Das Mekanik Destrüktiv Komandöh war vielleicht eine der radikalsten Bands der damaligen Zeit, anarchistisch, politisch, agitatorisch. Sie spielten auf Demos, waren Teil der Berliner Hausbesetzerszene, die ideologische Nähe zum Agit-Prop der Ton, Steine, Scherben ist unverkennbar. Hauptvogel veröffentlichte 1983 ein hübsches Buch mit dem Titel „Die Verweigerer – Politik wird Musik, das Mekanik Destrüktiv Komandöh im politischen Taumel Berlins.“

Was so eine Punkband aus dem Mauerstadt-Berlin mit dem bombastischen Brimborium bei Magma anfangen konnte, wo doch Punk alles ablehnte, was auch nur entfernt an Pink Floyd erinnerte, das leuchtet erst einmal nicht ein – dann aber umso mehr.

Punk forderte eine andere Sprache. Für dieses Vorhaben war die Magma-Kunstsprache Kobaïanisch ideal

Punk forderte eine andere Sprache, auch in „Die Verweigerer“ spricht Hauptvogel immer wieder von dem Verlangen, einer neuen Musik mit unkonventionellen Songtexten zum Durchbruch zu verhelfen. Für dieses Vorhaben konnte es kein besseres Vorbild geben als das Kobaïanisch von Magma, eine komplett eigene Kunstsprache mit Anleihen aus dem Deutschen und Slawischen, die genau die gesellschaftliche Entfremdung betonte, auf die auch Punk abzielte.

Wenn man dann noch die Grundthese des englischen Musikjournalisten Simon Reynolds aus seinem Buch „Rip it Up And Start Again“ ernst nimmt, nämlich dass sofort auf den Urknall von Punk und dessen Bilderstürmer-Primitivismus sich der Möglichkeitsraum Postpunk eröffnete und damit das erneute Erarbeiten musikalischer Komplexität, wirkt die Bezugnahme einer innovativen Band wie MDK auf Magma fast schon logisch.

Dem Untergang geweiht

Auch das Apokalyptische, der „No Future“-Pessimismus und die Negation des Bestehenden, die in Punk und Postpunk verarbeitet werden, nimmt der kosmologische und dystopische Endzeitfuturismus von Magma vorweg. In der Erzählung vom Planeten Kobaïa, die sich über die frühen Platten von Magma erstreckt, wird von einer dem Untergang geweihten Menschheit berichtet. Auf Kobaïa findet sie eine Zivilisation, die den paradiesischen Zustand ewigen Friedens erreicht hat. Doch wie die Menschen so sind, schaffen sie es nicht, sich die Kobaïaner zum Vorbild zu nehmen, und die Erde bleibt auch weiterhin dem Untergang geweiht.

Christian Vander, der bemerkenswerterweise seine Sternensaga aus Sicht der Kobaïaner, also der „Erleuchteten“ erzählt – deswegen auch das Singen in Kobaïanisch – wurde wegen seines Hangs zum Katastrophismus immer wieder eine Nähe zu Nietzsche und Oswald Spengler vorgeworfen. Die französische Presse nannte ihn sogar nach dem umstrittenen, mit dem Faschismus liebäugelnden französischen Schrifsteller, einen „Céline der Musik“.

Heute, wo eine atomare Bedrohung durch Terroristen und verrückte Diktatoren niemand mehr ernsthaft wegleugnen möchte, wirkt Vanders dystopische Science-Fiction zeitgemäßer denn je. Wie sein großes Vorbild, der Saxofonist John Coltrane, dessen Musik Vander seit seinem neunten Lebensjahr wie ein Lebenselixier einsaugt, sieht er die einzige Chance für ein besseres Leben in kosmischer Erleuchtung. Die Rettung, sie ist irgendwo im All. Magma wurde im selben Jahr gegründet, in dem die Mondlandung stattfand, genau vor 40 Jahren. Die Idee, andere Planeten zu besuchen, wurde Realität. Jetzt müssen wir nur noch ganz schnell Kobaïa finden und alle ein wenig kobaïanischer werden, dann klappt’s vielleicht doch noch mit dem Weltfrieden.

■ Magma: „Studio Zünd“, Seventh/Le Chant Du Monde