: Was wir ohne Reaktor machen
Narzissen blühen, Gänseblümchen, Bäume rundherum im Neckarbogen bei Obrigheim. Das Atomkraftwerk verschwindet fast im Tal, die Kuppel ist kaum größer als die einer Moschee. Die Betreiber haben extra einen Gärtner angestellt. Der Reaktorfahrer Herbert Schneeweiß ist stolz auf die Anlagen, die grünen wie die technischen.
Schneeweiß ist 53 Jahre alt und ein gemütlicher Mann mit Schnauzbart. Der Elektromeister ist Betriebsratschef und steuert und kontrolliert den Reaktor. Der sei auf dem weltweit neuesten Stand und könnte, davon ist er fest überzeugt, noch Jahrzehnte gefahrlos weiterlaufen. Dieser Tage wird das älteste deutsche AKW abgestellt. Dass die Grünen es „Schrottreaktor“ nennen, sagt Schneeweiß, „das tut sehr weh“. Dass sie das Aus mit einem Umschaltfest feiern, findet er unmoralisch: „Da werden schließlich Arbeitsplätze vernichtet.“
In den umliegenden Orten werden auch die Zulieferer die Schließung zu spüren bekommen, die kleinen Dienstleister und Handwerksbetriebe. Er selbst wird in den Vorruhestand gehen. Und das kann er sich ganz und gar nicht vorstellen. Auch nicht, dass alles das abgerissen werden soll: „Das schmerzt.“ Obrigheim sei „ein Bauernopfer der Politik“ geworden. Sein AKW habe in den letzten fünf Jahren „die besten Betriebsergebnisse gehabt“ Man habe immer neu dazugelernt: „Je älter es wird, umso besser läuft es.“ Nie sei etwas passiert. Aber jede Kleinigkeit werde gleich zum Störfall stilisiert: „Da könnte ich einen heillosen Zorn kriegen.“
Schneeweiß ist eigentlich ein versöhnlicher Mensch, doch in diesen Tagen kann er nicht ruhig bleiben. Der Triumph der Atomkraftgegner quält ihn: „Ich streite gerne am Biertisch, aber ich will keinen Krieg.“ Die Verständigung ist schwer mit einem, der überzeugt ist, dass das Verbrennen fossiler Rohstoffe ein Irrweg sei und die alternativen Energien den Strombedarf niemals decken werden. Er prophezeit seine eigene Energiewende, die reumütige Rückkehr zur Atomkraft. Er zählt die Irrtümer auf: „Ich verfluche Tschernobyl.“ Denn der Vergleich mit westeuropäischen Anlagen sei pure Angstmacherei. „Die Menschen, die hier arbeiten, sind keine Selbstmörder.“ Das Interesse der Medien an ihnen, gerade jetzt wie nie zuvor, quält ihn auch: „Die wollen uns leiden sehen.“
Manchmal hat er sich in den 36 Betriebsjahren wie im Widerstand gefühlt. Das habe auch sein Gutes gehabt, man habe „kämpfen gelernt“, Belegschaft und Chefetage hätten „wie ein kleines gallisches Dorf“ zusammengehalten. Dabei habe das AKW sich doch auch um den Frieden verdient gemacht, Waffenmaterial aus Osteuropa zu Brennstäben, also nachgerade „Schwerter zu Pflugscharen“ umgeformt.
Schneeweiß hat nichts gegen alternative Energien. Photovoltaik, Biodiesel, Windräder seien in Ordnung, aber bitte da, wo sie hingehören, wo die Sonne scheint und der Wind kräftig weht.
Nun ist er also bald Rentner. Er will sich um Menschen kümmern: „Vielleicht Sozialarbeit oder Altenbetreuung.“
Walter Sieber ist kein ängstlicher Mann, nur ein vorsichtiger. Fotografieren lässt sich der 78-Jährige nicht gerne. Es ist nicht einfach, in der Nähe eines Atomkraftwerks ein Atomkraftgegner zu sein. Böse Briefe machen ihm zu schaffen. Der praktische Arzt und Arbeitsmediziner wohnt in Mosbach am Hang hoch über dem AKW: „genau in der Abluftfahne“.
Sieber, seit 1992 im Ruhestand, ist zurückhaltend, sachlich, fast klinisch distanziert. In seinen jungen Jahren war er ein „absoluter Befürworter“ der Atomkraft. Da habe er die Zukunftsvision gehabt, dass „kein Benzin mehr gebraucht wird, Autos, Schiffe, alles fährt mit Atom“. Erst später habe er sich eingelesen, sich über die Langzeitwirkungen und die Gefahr informiert. Obrigheim setze in Kühlwasser und Luft Radioaktivität frei, und dazu noch „die höchste Konzentration bei geringster Leistung“. Er begann, Material über Leukämiefälle in der Region zu sammeln, bekam selbst nicht genug für eine abgesicherte wissenschaftliche Studie zusammen, fand sich aber von anderen bestätigt. Er engagierte sich in einer Friedensinitiative gegen Pershing-Raketen, hielt Referate bei Bürgerinitiativen und wurde in den letzten 16 Jahren als Mitglied der Klägergemeinschaft zum Experten im juristischen Papierkrieg: „Alles haben wir uns selber zusammensuchen müssen.“ Das tat er geduldig: „Schnelle Erfolge hat ein Arzt nur in der Chirurgie, der Gynäkologie und der Pathologie.“
Dass Obrigheim erst durch einen „Deal“ um Megawattstunden zwischen Bundesregierung und Energiewirtschaft, als zweites AKW nach Stade, vom Netz gehe, findet er nicht in Ordnung. Er verweist auf Gerichtsurteile: „Das Werk wäre heute nicht mehr genehmigungsfähig.“ Eigentlich hätte es trotz mehrerer Nachrüstungen längst abgeschaltet werden müssen. Die Urteile zu fehlerhaften Genehmigungsverfahren, zu Mängeln und Defiziten gäben ihm Recht. Aber immer wieder seien in der Vergangenheit politische „Kuhhandel“ gemacht worden.
Die Beteuerungen der Gegenseite, dass das AKW im Gegensatz zu Tschernobyl sicher sei, nennt er „dummes Geschwätz“. Anderer physikalischer Umwandlungsprozess hin oder her, auch in der Anlage Three Mile Island in den USA sei es nur durch glückliche Umstände nicht zur Katastrophe gekommen. Oft sei „mit harten Bandagen“ bis „zur Schwelle der Beleidigung“ gekämpft worden. Letztendlich, findet er, ist es in dem langen Streit immer nur um Geld gegangen. Sieber zitiert deshalb gerne und mehrfach den englischen Historiker Edward Gibbon, der sich vor über 200 Jahren mit dem Untergang des Römischen Reiches befasste: „Traue keinem hehren Motiv, wenn sich auch ein niedriges finden lässt.“
Jetzt ist Sieber froh. Endlich geht Obrigheim vom Netz. Er ist aber misstrauisch. Die Klägergemeinschaft werde ihre Klagen deshalb nicht zurückziehen, sondern nur ruhen lassen. Er fürchtet, dass Atommüll noch auf unabsehbare Zeit im Zwischenlager in Obrigheim lagern oder einfach nach Russland exportiert werden könnte: „Die nächste Generation wird uns verfluchen!“
Bürgermeister Roland Lauer amtiert seit 1990. Er kandidierte als Unabhängiger mit CDU-Parteibuch. Dass er keinen leichten Job antreten würde, hat der heute 49-Jährige vorher gewusst. Obrigheim, 5.400 Einwohner, im strukturschwachen, vormals von der Landwirtschaft geprägten Neckar-Odenwald-Kreis ist keine reiche Gemeinde. Dass es das AKW, den größten Gewerbesteuerzahler, nicht ewig weiter geben werde, war ihm klar. Es sei zwar „nur ein ganz kleines“ gewesen, aber in der Region hingen daran rund 1.000 Arbeitsplätze. Das sei in den 70er-Jahren „eine tolle Entwicklung“ gewesen. Die Obrigheimer waren stolz. „Die Grünen haben es hier nie ins Gemeindeparlament geschafft“, sagt Lauer.
Beim Amtstritt stellte er fest, wie stark die Abhängigkeit vom Kraftwerk ist. Deshalb hat er am Ortsrand zusammen mit fünf anderen Gemeinden ein Gewerbegebiet „für höhere Ansprüche mit guter Aussicht fast mit Urlaubsqualität“ geplant und erschließen lassen. Das brachte in den letzten fünf Jahren 130 neue Arbeitsplätze. Nicht viel, aber bei dem derzeit „furchtbar miesen Investitionsklima: immerhin“.
Lauer, schwarzgrauer Vollbart, braune Lachaugen, verbreitet Optimismus. Obrigheim sei zwar nicht wohlhabend, aber auch nicht verschuldet. Es solle auch in der Zukunft als Energiestandort erhalten bleiben. Direkt neben dem AKW hat sich die Gemeinde 60 Hektar Land gesichert. Dort sieht er schon ein Bioenergie-Zentrum entstehen. Der Gemeinderat habe gerade für ein Biomassekraftwerk votiert, das mit Waldholz betrieben und so auch Forstarbeitsplätze sichern werde: „Das ist auch nicht die Rettung, aber wieder ein kleiner Mosaikstein.“ Ein weiterer könnte das Lieblingsprojekt der örtlichen SPD sein: die die Gewinnung von Biodiesel. Vielleicht auch noch ein Gaswerk, wenn eine Ferngasleitung von Hessen nach Österreich gebaut werden sollte: „Bisher haben wir noch keine Anfragen, aber wir wären interessiert.“ Und die Atomkraft? Lauer zögert: „Eventuell ja, in einer anderen Form mit neuer Technik.“ Er findet die Deutschen zu ängstlich: „In Frankreich werden neue Reaktortypen gefeiert.“
Dass auf dem aufgelassenen AKW-Gelände dauerhaft Atommüll zwischen-oder gar endgelagert werden könnte, sieht er nicht kommen. Der Salzstock im niedersächsischen Gorleben sei dafür bestens geeignet. Die Bundesregierung müsse die Diskussion darum endlich beenden und so „zur Befriedung beitragen“. Das sei sowieso dringend erforderlich. Die Obrigheimer, die die Abschaltung nie gewollt haben, hätten „seit Jahrzehnten mit dem Medienrummel gelebt“ und hätten das nun „einfach satt“. So seien auch ein paar verärgerte Leserbriefe gegen das grüne Umschaltfest zu verstehen gewesen. Insgesamt aber werde es unter seiner Ägide auch nach dem Abschalten keinen Stillstand geben. Und zum Abschied sagt er, was ein Bürgermeister sagen muss: „Wir suchen Investoren, vor allem solche, die Arbeitsplätze bringen.“