Das vergiftete Allheilmittel

ENTWICKLUNGSHILFE Gerhard Klas entlarvt die Mikrofinanzindustrie als Geschäft mit der Armut

VON PHIL MADER

Gib einem Menschen einen Fisch – und du ernährst ihn einen Tag. Lehre ihn das Fischen – und du ernährst ihn ein Leben lang.“

Dieser unmittelbar einleuchtende Aphorismus ist zu einem der Leitmotive des globalen Mikrofinanzsektors geworden. Angeführt von Gründerfigur Muhammad Yunus und von Geberorganisationen und Mäzenen wie Bill Gates mit Milliarden gefördert, haben Mikrokredite in der öffentlichen Wahrnehmung den Status eines Allheilmittels gegen Armut erlangt. Yunus wird seit seinem Friedensnobelpreis 2006 fast wie ein Heiliger verehrt.

Besonders in Deutschland sind die Kleinkredite beliebt. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) ist der weltweit größte öffentliche Geldgeber und die Deutsche Bank ein Vorreiter bei „sozial motivierten“ Investmentprodukten. Dirk Niebel (FDP) sprach bei seiner ersten Ansprache als Entwicklungshilfeminister fast ausschließlich von Mikrofinanzierung; er nannte Mikrokredite ein „urliberales Instrument“. Doch der schöne Schein der Mikrofinanz trügt.

Dem Buch des Journalisten Gerhard Klas zufolge wäre eher das Bildnis einer Industrie zu zeichnen, die Angelruten verleiht und vom Fischer tagtäglich Fische zurückverlangt – egal ob ihm ein Fang gelungen ist oder ob er überhaupt fischen kann. Denn das „Geschäft mit der Armut“ muss sich für den Geldverleiher lohnen. Das Versprechen der Mikrofinanzindustrie, man könne Gutes tun und daran auch Geld verdienen, erweist sich in der Praxis allenfalls als guter Vorsatz.

Zahlreiche Studien der letzten Jahre belegen, dass Armutslinderung dank Kleinkredite nicht nachzuweisen ist. KleinkreditnehmerInnen erzielten kein höheres Einkommen als ihre kreditfreien MitstreiterInnen. Für die Profitabilität hingegen sprechen harte Zahlen. Am Börsengang des indischen Mikrofinanzierers SKS im Sommer 2010, kurz vor dem reihenweisen Selbstmord seiner Kunden, verdiente allein der Gründer Vikram Akula über 60 Millionen US-Dollar.

Lukrative Armut

„Die Mikrofinanzindustrie“ ist nicht nur das erste deutschsprachige Werk, das ein kritisches Auge auf Mikrokredite wirft. Vor allem ist es das erste Buch überhaupt, das konsequent die ökologische Dimension beleuchtet. Die Armen in Südasien leiden besonders unter dem Klimawandel: Dürre und Naturkatastrophen zwingen viele Kleinbauern zur Übersiedelung in die Slums der Städte, um sich wiederum als Kleinunternehmer zu verdingen. Den Übriggebliebenen werden Mikroversicherungen gegen Wetterkapriolen angeboten. Besonders der Mikrofinanzmarkt in Südasien wuchs in den vergangenen Jahren rasant, sodass inzwischen heute in Bangladesch fast jede arme Frau im Erwachsenenalter einen Kleinkredit hat.

Auf dieser weiterhin von bitterer Armut gezeichneten Region liegt das Augenmerk des Kölner Journalisten, der 2007 hier zu recherchieren begann. Gerade im Vorjahr hatte sich im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh eine international kaum beachtete Tragödie ereignet. Bis zu 200 KreditnehmerInnen begingen Selbstmord, es kam zu Ausschreitungen.

Die Mikrofinanzinstitute erließen einen Teil der Schulden und versprachen Selbstregulierung, um massenweise Überschuldung zukünftig zu verhindern. Danach gingen die Geschäfte aber weiter wie gehabt, bis 2010 das Gleiche noch einmal passierte: zahlreiche Selbstmorde und landesweite Proteste. Diesmal allerdings unterband die Landesregierung unter dem Druck der Öffentlichkeit kurzerhand alle Mikrofinanzgeschäfte.

Diese tragische Episode repräsentiert für Klas das Versagen des „Geschäfts mit der Armut“ als Entwicklungshilfe, ein Irrtum, der schon im Ausgangsgedanken angesiedelt ist. Der nämlich ist, dass Armutsreduktion mit marktwirtschaftlichen Mitteln erlangt werden sollte, ja sogar müsste. Die Armen sollten per Zinsen jedwede Hilfe selbst finanzieren und für die Reichen lukrativ machen. Die vermeintliche Hilfe kommt dann aber nur um den Preis der Verschuldung.

Klas’ Enthüllungsbericht ist stark ideologiekritisch, stets auf das Hinterfragen von Annahmen und Rhetorik bedacht. Er zeigt auch, wie sich westliche Medien und Wissenschaft vielfach für die Mikrofinanzbranche durch die Verbreitung selektiver Ansichten einspannen ließen. Wenn Klas recht hat, sind Mikrokredite inzwischen nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

Dass er sein Augenmerk gezielt nur auf das Negative an der Mikrofinanz richtet, wird Klas zu Recht den Vorwurf der Einseitigkeit einbringen. Doch als Korrektur an einer stilisierten Geschäftsidee, die kaum öffentlich hinterfragt wird, ist das notwendig.

Die ergiebigen Aussagen von KreditnehmerInnen sowie lokaler zivilgesellschaftlicher Akteure und Forscher, die bei Klas häufig zu Wort kommen, belegen eindrücklich, wie viel am verklärten Bild der Mikrofinanzindustrie nicht stimmt.

Gerhard Klas: „Die Mikrofinanz-Industrie. Die große Illusion oder das Geschäft mit der Armut“. Assoziation A, Berlin 2011, 320 Seiten, 19,80 Euro