„Schreiben Sie: Fischer ist schuld“

Bei seinem Auftritt im Visa-Untersuchungsausschuss legt der Zeuge Fischer ein Solo hin. Für alle Fehler gebe es nur einen Verantwortlichen: ihn

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF

Jetzt ist er dran. Endlich. „Das waren zwei Stunden und achtzehn Minuten“, sagt Hans-Peter Uhl, der genau auf die Uhr gesehen hat. Es ist ihm offenkundig schwergefallen so lange zu warten. Uhl hat in Akten geblättert und oft mit dem Kopf geschüttelt, wie ein strenger Lehrer. Aber der Vorsitzende im Visa-Untersuchungsausschuss konnte nichts dagegen tun, dass der Zeuge Fischer erst einmal ein Solo hingelegt hat. Das dürfen alle Zeugen. Auch der Außenminister.

„Mein Name ist Joseph Martin Fischer“, hat der Außenminister ganz am Anfang gesagt, „genannt auch Joschka Fischer, das hängt mit meiner Herkunft zusammen.“ Mit seiner Herkunft aus einer ungarisch-deutschen Familie, wie er später noch einmal erwähnen wird, als es um die Reisefreiheit für Osteuropa geht. Der Außenminister nutzte sein Recht zu einem Eingangsstatement, um erstens über die Reisefreiheit zu reden, die es zu schützen gelte. Und zweitens über die Visafehler während seiner Amtszeit, die zu bedauern seien und für die er, Fischer, die Verantwortung übernehme. Dabei ist ihm unter anderem ein schöner, lapidarer Satz herausgerutscht: „Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler.“ Eigentlich eine Steilvorlage .

Der CSU-Politiker Uhl, ein erfahrener Ausländer-raus-Experte, hat in den letzten Jahren nichts anderes gemacht, als nach Fehlern in der rot-grünen Visapolitik zu suchen. Er hat federführend dafür gesorgt, dass dieser Untersuchungsausschuss überhaupt zustande kam. Uhl hat, unterstützt von seinen Unionskollegen und diversen Medien, den Eindruck vermittelt, nichts sei für das Schicksal Deutschlands in den letzten Jahren wichtiger und verheerender gewesen als die Visafehler Fischers. Und nun sitzt Fischer da und sagt einfach so dahin: „Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler.“ Ein Satz, sollte man meinen, der Uhl empören muss, den er nicht so stehen lassen kann – und auch nicht muss.

Fischer ist ihm jetzt ausgeliefert. Uhl kann ihm Fragen stellen, er kann ihn in die Ecke treiben. Darauf hat er nicht nur zwei Stunden und achtzehn Minuten gewartet. Darauf hat er seit Monaten gewartet. Aber Uhl sagt, als Fischer mit seinen Ausführungen endlich fertig ist, nur: „Das waren jetzt zwei Stunden und achtzehn Minuten.“ Uhl braucht etwas länger, um seine Gedanken zu sortieren.

Nach ein paar Minuten schafft er es. Uhl nimmt Fischer ins Kreuzverhör. Er will wissen, wer die Fehler genau gemacht hat, die zu massenhaftem Missbrauch führten. Wer, wenn nicht er, war es, fragt Uhl, der vor sechs Jahren jene folgenreichen Erlasse schrieb, wonach außer einer Reiseversicherung keine weiteren Einreisedokumente mehr verlangt werden mussten? Uhl will wissen, welche Mitarbeiter dafür zuständig gewesen wären, schneller und tatkräftiger auf die Warnungen und Beschwerden aus den deutschen Botschaften zu reagieren. Antwort: „Schreiben Sie rein: Fischer ist schuld.“ Die Schuld auf andere abzuwälzen, sei seine Sache nicht, sagt Fischer. Er wolle seinen Mitarbeitern keine Vorwürfe machen. Er könne nicht einmal behaupten, dass er damals schlauer als sie gewesen wäre, wenn er damals schon eingegriffen, wenn er sich um die Details gekümmert hätte. Hat er aber nicht – und das sei sein Fehler. Nicht der Fehler von Mitarbeitern.

Heute, im Nachhinein, wisse er natürlich, sagt Fischer, dass die Erlasse aus seinem Ministerium zeitweise schlimme Folgen hatten, weil sie Schleusern und Menschenhändlern ihre schmutzige Arbeit erleichtert haben. Es sei zu Missbrauch gekommen, sagt Fischer, keine Frage. Aber ganz schlimm sei es eigentlich nur in Kiew gewesen, die Missstände dort nennt er „singulär“. Was dort passierte, habe niemand ahnen können. Und wenn es jemand hätte ahnen können, dann sei auch das – sein Fehler. Für alle Fehler gebe es, wie man es auch drehe und wende, nur einen Verantwortlichen: Ihn, den zuständigen Minister.

Uhl gibt sich nicht zufrieden. Er fragt nach der Herkunft der Erlasse – und prallt an eine Wand. Fischer bleibt bei seiner Linie. „Schreiben Sie rein: Fischer ist schuld.“ Diese Antwort lässt Uhl verzweifeln. Er spürt, dass er nicht weiterkommt und übergibt das Fragerecht an die SPD. Warum kommt er nicht weiter? Weil sich Fischer eine Strategie zurechtgelegt hat, die er in seinem langen Eingangsreferat genauso wie im anschließenden stundenlangen Kreuzverhör durch die Union konsequent verfolgt: Er ist schuld. Er nimmt alle Fehler auf sich. Er will sich nicht rausreden. Fischer hat aus dem miserablen Eindruck gelernt, den sein erstes Statement zu den Visavorwürfen hinterlassen hat. Damals, im Februar, im Schneegestöber, auf dem Gehsteig vor der Grünen-Parteizentrale, hat er gesagt, „für mögliche Versäumnisse meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ übernehme er die politische Verantwortung. Von eigenen Fehlern sprach er nicht.

Das wurde ihm übel genommen. Von den eigenen Leuten im Auswärtigen Amt. Auch von eigentlich Rot-Grün wohlgesinnten Medien, die wochenlang über die Arroganz und Abgehobenheit des Ministers schrieben. Fischers Charakter war daraufhin das Thema. So unangenehm das für ihn gewesen sein mag, so schwer es ihm fiel, damit umzugehen: Genau darin, in der Konzentration auf seine Person, liegt jetzt seine Chance. Denn in der Berichterstattung, in all den Erörterungen seiner Charakterschwächen ist völlig untergegangen, um was es eigentlich ursprünglich ging. Fischer kann damit rechnen, dass die übergroße Mehrheit des Fernsehpublikums, das seinen Auftritt verfolgt, immer noch nicht mitbekommen hat, was genau in der Visapolitik falsch gelaufen ist. Fachbegriffe wie „Carnet de Touriste“ oder „Reisebüroverfahren“ sind auch nach drei Monaten Visa-Affäre für die breite Öffentlichkeit Fremdwörter geblieben. Auch welchen Schaden seine Fehler für Deutschland angerichtet haben, konnte bisher niemand beziffern. Massenweise Schwarzarbeit? Massenweise Zwangsprostitution? „Das gibt die Kriminalstatistik nicht her“, sagt Fischer im Ausschuss, fast triumphierend – und die Union hat keine Statistik, kein überzeugendes Material, das sie ihm vorhalten könnte. Uhl und von Klaeden fragen stattdessen immer wieder nach Details, nach Teilnehmern von Beratungssitzungen, nach einzelnen Paragrafen. Sie tun Fischer damit einen Gefallen.

Er hat sich gut genug vorbereitet, um zu beweisen, dass er sich inzwischen, wenn auch spät, mit den Visaproblemen ausgiebig beschäftigt hat. Fischer hat Akten gelesen, viele Akten mitgebracht. Er kann, je nach Frage, irgendein Dokument hervorziehen, das ihn entlastet – etwa weil auch die Union in ihrer Regierungszeit vor 1998 manchmal lasch war.

Fischer gibt abwechselnd den fleißigen Detailkenner und den polemischen Angreifer. Einmal sagt er, es sei nie seine Absicht gewesen, die Ausschussarbeit zu behindern. Als Uhl sagt, ihm kämen gleich die Tränen, entgegnet Fischer: „Soll ich Ihnen ein Taschentuch reichen? Ich lasse ungern ein Krokodil weinen.“ Seine Strategie: Wer ein gutes Gewissen hat, kann sich Witze und Entspanntheit leisten. Die Unionsvertreter können das nicht. Sie müssen heute ihre Chance nutzen. Auf Fischers Lockerheit reagieren sie kleinlich – und das hilft Fischer. Weil es die Union nicht schafft, die Vorwürfe auf den Punkt zu bringen. Mal sind es die Verhältnisse in Kiew, mal unterschiedliche Erlasse, mal die Behinderung von Schleuserprozessen.

Fischer stellt den Vorwürfen im Detail seine Gesamtbilanz entgegen. Was er „gemeinsam mit meinen Mitarbeitern“ geleistet habe, „vom Kosovokrieg bis zur Tsunamikrise“, das, sagt er, könne man nicht schlechte Politik nennen.