: Das Wartezimmer
GRENZEN Mariam Blal ist acht Jahre alt. Mit ihrer Mutter hat sie seit ihrer Geburt noch nie woanders gelebt als in Flüchtlingsheimen. Warum?
■ Zahlen: Etwa 90.500 Flüchtlinge unter 18 Jahren leben laut Bundesamt für Migration in Deutschland. 23.000 von ihnen werden geduldet, von denen wiederum 13.000 in Deutschland geboren sind. Herkunftsländer sind vor allem Afghanistan, Irak, Serbien, Iran und Mazedonien.
■ Schule: In den meisten Bundesländern ist die Schulpflicht auch für Flüchtlingskinder gesetzlich festgelegt.
■ Geld: In der Regel bekommen sie laut Pro Asyl in Sach- und Geldleistungen ein Drittel weniger als Kinder von Hartz-IV-Empfängern.
■ Kindeswohl: 2010 akzeptierte die schwarz-gelbe Regierung die UN-Kinderrechtskonvention auch beim Ausländerrecht. Seitdem soll das Kindeswohl bei Flüchtlingen vor allem anderen stehen. Ins Grundgesetz wurde dies nicht aufgenommen. Aus Sicht von Pro Asyl gefährdet allein die Lagerunterbringung das Wohl eines Kindes.
AUS PARCHIM EMILIA SMECHOWSKI (TEXT) UND MIGUEL FERRAZ (FOTOS)
Das Schlafzimmer von Mariam Blal ist 18 Quadratmeter groß. Sie erwacht darin jeden Morgen, wenn der Prinzessin-Lillifee-Wecker klingelt. Das Esszimmer von Mariam Blal ist 18 Quadratmeter groß. Sie isst darin ihre Pommes oder Pizza, wenn sie aus der Schule kommt. Das Spielzimmer von Mariam Blal ist 18 Quadratmeter groß. Sie spielt darin manchmal mit sich selbst Spongebob-Memory, wenn es draußen auf die Flachbauten des Lagers regnet.
Es ist auch das Esszimmer, das Schlafzimmer, das Wohnzimmer von Mariams Mutter. Ihre gemeinsamen 18 Quadratmeter. Seit sechseinhalb Jahren, seit Mariam Blal in dieses Flüchtlingslager in Mecklenburg-Vorpommern gezogen ist. Davor lebte sie in einem anderen in der Nähe, von Geburt an.
Wenn Mariam morgens aufs Klo muss, verlässt sie die 18 Quadratmeter, zieht sich rosa Gummischlappen an und schlurft den Hausflur runter. An manchen Stellen liegt kein PVC mehr auf dem Boden, an manchen Stellen läuft sie einfach über Beton. Die Klobrille im Gemeinschaftsbad wischt sie mit feuchten Tüchern ab.
Mariam Aischa Blal ist acht Jahre alt, und ihr Zuhause liegt in Parchim, Mecklenburg-Vorpommern. Es ist umgeben von einem Maschendrahtzaun. Mariam hat nicht das Gefühl, dass dies ihr Land ist. Es ist so wie ihr Land, sagt sie. Aber eben nicht richtig. Es ist ein bisschen, als würde sie an einem Flughafen aufwachsen, einem Bahnhof. Es könnte irgendwohin gehen. Irgendwann.
„Meine Mutter sagt immer, wir müssen warten, bis Post kommt“, sagt sie. Mariam ist eins von achtundzwanzig Kindern, das in dem Lager lebt. Sie lebt hier mit Abstand am längsten.
Ein Flüchtlingslager soll eigentlich eine Durchgangsstation sein, kein Endbahnhof. Entweder ein Asylantrag wird bewilligt, jemand bekommt einen Aufenthaltsstatus – und zieht aus. Oder sein Asylantrag wird abgelehnt, er wird abgeschoben – und zieht aus. Oder sein Asylantrag wird abgelehnt, er wird aber noch geduldet – und bleibt.
Deutschland duldet Mariam Blal und ihre Mutter Sara. Seit acht Jahren.
Dulden heißt warten. Mariams Zimmer ist ein Wartezimmer.
Es ist das vierte von links, im rechten der zwei Flachbauten. Ein Vorhang hängt vor der Tür, die matschigen Winterstiefel haben sie davor ausgezogen, der Raum ist vollgestellt mit alten Polstermöbeln, einer Schrankwand, einer Kühl-Gefrier-Kombi, Fernseher, Plastikblumen in Knallfarben, Kuscheltieren und einem Doppelbett, in dem Mutter und Tochter schlafen.
Mariam geht in die zweite Klasse. Einen Schreibtisch für Hausaufgaben hat sie nicht.
Wie kann es sein, dass ein Mädchen in Deutschland im Flüchtlingslager aufwachsen muss?
Es ist ein Dienstag im Januar, exakt 7.30 Uhr, als Mariam eine weiße Tablette mit Wasser runterspült, die zweite wird sie abends nehmen. Dann läuft sie mit ihrem Ranzen los. Durch das grüne Tor des Flüchtlingslagers, raus zur B 191, wo die Laster vorbeirauschen, gegenüber raucht eine Getreidefabrik, und Mariam biegt rechts ab.
Ob Flüchtlinge eher im Lager oder in einer Wohnung untergebracht werden, ist bundesweit sehr verschieden: Während in Bayern fast ausschließlich Gemeinschaftsunterkünfte betrieben werden, lässt Rheinland-Pfalz seine Flüchtlinge meist in Sozialwohnungen wohnen. Vorbildlich, sagt Pro Asyl. Mecklenburg-Vorpommern liege eher im Mittelfeld. Grundsätzlich Lager, aber manchmal auch Wohnung.
Der Mann, der in Mecklenburg-Vorpommern für die gesetzliche Grundlage für Mariams Zuhause verantwortlich ist, wohnt in Anklam. Er war CDU-Politiker, jetzt ist er im Ruhestand, Dieter Markhoff, er sieht entspannt aus.
Der Mann, der als Beamter darüber entscheidet, wie Mariam untergebracht wird, sitzt im Untergeschoss eines Backsteinbaus in Parchim, Heiko Lohrenz, er wirkt nervös.
Oft verweisen Ausländerbehörden auf ihre Pressesprecher, wenn Journalisten sich nach Flüchtlingen erkundigen. Oder sie erwähnen den Datenschutz, der verbiete, sich konkret zu äußern. Lohrenz jedoch, Leiter der Parchimer Ausländerbehörde, ist einverstanden zu reden.
Mariam läuft auf einem Trampelpfad zur Schule. Vorbei an Autohäusern und Werkstätten. Ein blasses, dünnes Mädchen, das Haar ist braun und voll, es reicht ihr fast bis zum Po. Lkws rasen vorbei, Schneematsch spritzt.
Was Mariam Blal mag: Rosa. Computerspiele, in denen sie Puppen mit Kulleraugen unendlich viele Kleider anziehen kann. Pommes, die hell und etwas labberig sind. Die Gedichte in der Fibel auswendig zu können, aber so zu tun, als würde sie sie vorlesen. Auf dem Spielplatz so doll zu wippen, dass sie mit dem Po abhebt. Und Dienstage, weil sie da Zeichnen und Sport hat.
Aber wenn sie ihre Tabletten vergisst, die Ospolot heißen, kann es passieren, dass ihr Körper plötzlich verkrampft. Dann regt sie sich nicht mehr. Das ist, wenn Mariam einen epileptischen Anfall hat. Die Diagnose liegt zwei Jahre zurück, die Krämpfe kamen nachts. Ihre Mutter hat sie erst nicht bemerkt, das macht die Epilepsie besonders gefährlich. Ospolot verhindert sie, Nebenwirkungen: Magen- und Atembeschwerden, Schwindel, Appetitlosigkeit. Und Halluzinationen, Antriebsarmut, Müdigkeit.
Warum darf ein krankes, acht Jahre altes Mädchen nicht mit der Mutter in eine Wohnung ziehen?
Heiko Lohrenz, 47 Jahre alt, sitzt mit verschränkten Armen am Tisch in der Ausländerbehörde. „Sie müssen verstehen: Warum sollten wir Wohnungen anmieten, wenn noch Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft vorhanden sind? Geduldete werden grundsätzlich zentral untergebracht. Und es gibt schließlich auch einen fiskalischen Aspekt.“
Es gibt auch Ausnahmen vom Grundsatz der zentralen Unterbringung. Nämlich dann, „wenn medizinische Gründe eine Unterbringung außerhalb von Gemeinschaftsunterkünften erfordern.“ So steht es in einem Erlass von 1997, die Ausnahme gelte auch für geduldete Flüchtlinge. Im Fall Mariam Blal liegen bereits zwei ärztliche Gutachten im Ordner der Behörde, das letzte vom Dezember 2010. Darin bittet die behandelnde Ärztin, „die Wohnsituation der Patientin kritisch zu überdenken und sie dauerhaft in einer passenderen Wohnung unterzubringen“.
Das Mädchen. Wartet auf die Post vom Amt
„Das stimmt ja auch nicht, das ist eine Quatsch, dass Menschen mit Duldung keine Wohnung bekommen können. Guck: Da, da und da!“ Mariams Mutter zeigt in alle Himmelsrichtungen. Von ihren alten Freundinnen, die im Lager wohnten, ist sie die Einzige, die übrig ist. Manche wurden abgeschoben, aber den meisten hat die Ausländerbehörde eine Wohnung zugestanden. Sara Blal versucht, Heiko Lohrenz dazu zu bringen, dass die Post kommt, auf die Mariam so lange wartet.
Es ist 8.45 Uhr, die Klasse 2a der Grundschule West in Parchim nimmt gerade Geometrie durch. „Wer von euch weiß denn, was für eine Form Kirschen haben?“, fragt die Klassenlehrerin. Fast alle Hände schießen hoch, dass man Angst bekommt vor ausgekugelten Schultern. Es wird geschnipst, „ich weiß!“, schreit einer. „Ich-weiß-Schreier kommen nicht dran“, sagt die Lehrerin. „Mariam, was denkst du?“ – „Rund?“, sagt Mariam. Sie wirkt schüchtern, die Lider scheinen etwas zu tief auf den Augen zu hängen. „Rund ist aber keine geometrische Form, Mariam“, sagt die Lehrerin. „Dann weiß ich es nicht.“
In ihrem Zeugnis für die erste Klasse steht: „Mariam Aischa freut sich über erreichte Lernfortschritte, wird aber durch häufiges Fehlen immer wieder in ihren Bemühungen zurückgeworfen. Es sind Wissenslücken entstanden, die Mariam Aischa nur noch mit zusätzlicher Hilfe schließen kann. Durch kontinuierliches Lernen würde es ihr gelingen, Lernfortschritte zu erzielen.“ Fehltage 1. Halbjahr: 18, Fehltage 2. Halbjahr: 56.
Mariam fehlt oft, und wenn sie da ist, ist sie oft müde, sagt die Lehrerin. „Vielleicht liegt das an den Medikamenten, vielleicht an diesem Jubel und Trubel im Heim.“ Sie war noch nie bei Mariam zu Hause.
Heiko Lohrenz schon. Das Zimmer der Blals kennt er nicht. Er wartet, bis er die Worte gefunden hat. „Es ist schon unruhig da“, sagt er. „Man hat wenig Privatsphäre.“ Was soll er noch sagen? Er streicht ein Papier glatt.
Die Parchimer Grundschule macht einen freundlichen Eindruck, ein Plattenbau, in den durch eine Glaskuppel Licht dringt, an den Flurwänden hängen bunte Zeichnungen. Lothar Rabenstein, der Schulleiter, sagt: „Wenn das so weitergeht mit den vielen Fehltagen und Mariams schlechter Konzentration, wird sie das Klassenziel nicht erreichen.“ Er ist ratlos. In der zweiten Klasse sitzen bleiben? Das sei selten. Und Mariam sei doch so intelligent, so beliebt. Wieso ist sie ständig müde? „Sie ist hier geboren, spricht perfekt Deutsch, es kann nicht sein, dass so jemandem schon während der Schulzeit die Zukunft verbaut wird.“
Was Mariam Blal nicht mag: Mathe. Das Ziepen, wenn sie sich kämmt. Den Mann, der nachts im Lager betrunken über die Flure streift und „Yo, baby, yo“ ruft. Das Mädchen mit dem blonden Zopf aus der Schule, dem sie nicht sagt, wo sie wohnt. Und: das Gemeinschaftsklo jedes Mal abzuwischen, bevor sie sich daraufsetzt.
Die Mutter. Mit dem Schiff aus Algerien nach Europa
Wer trägt die Verantwortung, wenn ein Mädchen in der zweiten Klasse sitzen bleibt? Die Ausländerbehörde? Die Medikamente? Die Mutter?
Sara Blal will eine gute Mutter sein. Aber sie ist am Ende ihrer Kräfte, seit Jahren. Sie sagt es nur einmal, und sie sagt, man solle das nicht aufschreiben: „Wenn Mariam nicht wäre …“
Offiziell war es der September 2001, als Sara Blal aus Algerien nach Deutschland kam und Asyl suchte. Ob und wie viel früher sie sich vorher illegal aufgehalten hat, ist unklar – wie so vieles bei Flüchtlingsgeschichten, die nicht leicht zu rekonstruieren sind. Papiere sind oft unvollständig, die Betroffenen erinnern sich bruchstückhaft. Manchmal lügen sie aus Angst, wieder in ihre Heimat zu müssen.
In Algerien, sagt Sara Blal heute, fürchtete sie sich vor terroristischen Anschlägen und den Repressionen, denen sie als Muslimin ohne Schleier ausgesetzt war. Von Algier sei sie mit dem Schiff nach Marseille gekommen, mit dem Gold ihrer Stiefmutter, das sie verkauft hatte. Dann weiter nach Paris. In Deutschland könne man Asyl auch ohne Papiere beantragen, hörte sie von Bekannten, und das tat sie.
Seit ihr Asylantrag vor zehn Jahren abgewiesen wurde, wird sie geduldet.
„Nun“, sagt Heiko Lohrenz, nimmt einen Kulli, als wollte er einen Vermerk machen, legt ihn wieder zurück, schaut prüfend, überlegt. „Dass Frau Blal straffällig geworden ist, ist natürlich nicht von Vorteil.“
Was ist in diesen zehn Jahren geschehen? Sara Blal ist nach ihrem Asylverfahren für kurze Zeit untergetaucht. In einer Berliner Wohnung fand die Polizei gefälschte Ausweispapiere, ausgestellt auf Sara Ben Abdi. Urkundenfälschung und gewerbsmäßiger Bandenbetrug. Sara Blal schweigt dazu. Dann kam der 9. September 2003: Mariam. Hineingeboren in ein Flüchtlingslager, Vater unbekannt. 2005 ziehen Mutter und Tochter nach Parchim oder besser: Sie werden gezogen. Jetzt wird alles gut, hofft die Mutter. Mit einem Baby kann es nicht lange dauern, bis sie in eine Wohnung ziehen.
Alle drei Monate läuft Sara Blal zur Ausländerbehörde, um ihre und Mariams Duldung zu verlängern. Es ist ein Leben auf Repeat. Immer dasselbe Lied. Duldung. „Nur: Ich habe meine Geduld verloren.“
„Ich wollt fragen ob du Mariam abholen von der Schule“, schreibt sie eines Tages per SMS. „Ich zu müde.“
„Manisch-depressiv“ nennt ihr Anwalt ihren Zustand, zum Arzt geht Sara Blal nur für die Behandlungen ihrer Tochter. Es ist, wovor Flüchtlingsorganisationen warnen. Wer nicht durch die Flucht traumatisiert ist, wird es nach den Jahren im Flüchtlingslager. Die Organisationen fordern dezentrale Unterbringung.
Doch wie das konkret funktionieren soll, sagen sie nicht. Über 45.000 Menschen waren es bundesweit, die 2011 um Asyl baten. 87.000 wurden geduldet.
„So ist nun mal unser Gesetz“, sagt Heiko Lohrenz. „Flüchtlinge werden in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht.“
Dieter Markhoff gehörte dem Innenausschuss an, als dieses Gesetz gemacht worden ist. Es war 1994, als der Schweriner Landtag das sogenannte Flüchtlingsaufnahmegesetz beschloss. Es kamen viele in diesen Jahren, die Politik stand unter Druck. Oder wie es Markhoff formuliert: „Es ist ja, ich sach’s mal so, alles gekommen hier und hat Asyl geschrien.“ In diesen Jahren begannen die Kriege in Jugoslawien. Allein 1992 beantragten 440.000 Menschen in Deutschland Asyl. Deshalb schränkten Union, SPD und FDP das Grundrecht auf Asyl ein. Die einzelnen Bundesländer sollten die Details regeln. Heute ist Markhoff 72 und aus der Politik raus, ein wuchtiger Mann, der die Gelegenheit genießt, von seiner Zeit als Abgeordneter zu erzählen. Er lehnt sich zurück im Büro der Anklamer CDU, Brille, Waigel-Brauen, Hände auf den Bauch. Aus Kostengründen hätten sie damals die Unterbringung in Heimen beschlossen, sagt er. Und wegen der besseren Kontrolle.
Der Politiker. Hauptsache, die Spülung funktioniert
Ob er einmal ein Flüchtlingsheim von innen gesehen hat? Ja, natürlich, hier das in Anklam. Schön ist es nicht, sagt er. „Aber wir waren, damals als DDR-Studenten, auch in Internaten untergebracht, zu sechzehnt in einem Schlafsaal, in Doppelstockbetten!“ Er glaube nicht, dass diese Art der Unterbringung traumatisiert. Hauptsache, die sanitären Anlagen seien in Ordnung. Plötzlich lacht er. „Die wussten damals ja noch nicht mal, wie eine Spülung funktioniert.“ Dann hört er von Mariams Geschichte, und es ist der einzige Moment, bei dem er sich Zeit lässt mit der Antwort. „Puh“, sagt er, „ja, das tut mir natürlich sehr leid. Das ist natürlich traurig irgendwie.“
Mariam hat sich ihren rosa Pyjama angezogen und sitzt im Schneidersitz zu Hause auf dem Boden, über ein Heft gebeugt. Lesen üben. „M-U-R-M-E-L.“ – „Mürmell“, flüstert ihre Mutter. „W-A-L-Z-E.“ – „Walze.“ – „Was ist das?“ – „Weiß ich auch nicht“, sagt die Mutter, und sie muss los in die Gemeinschaftsküche, sonst brennt das Hähnchen an. Heute gibt’s Pommes dazu. Mariam kommt nie mit in die Küche, sie findet sie dreckig, vor allem die Tische, die sind so fettig, sagt sie. Wie es ist, in einer Wohnung zu leben, ein Kinderzimmer für sich zu haben und ein Klo, weiß Mariam nicht. Zu ihren Freundinnen nach Hause geht sie selten.
Was sie sich wünscht: ein eigenes Bett. Alles in Hello Kitty, Teppich, Fahrrad, Kleider, Bettwäsche, wie das Mädchen aus der Schule. So viele Dino-Stempel in ihrem Matheheft wie Philipp, der sitzt in der Klasse neben ihr. Und: später mal nach Algerien zu fahren. Vielleicht für immer.
Es ist eher unwahrscheinlich, dass Mariam Blal und ihre Mutter noch abgeschoben werden. Im November hat Sara Blal einen zweiten Asylantrag gestellt. Es wäre der Jackpot. Aufenthaltserlaubnis, Arbeitserlaubnis, bei Bedarf Leistungen vom Staat, eine Wohnung. Über den Antrag entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Ob jemand aber, unabhängig vom Status, in einer Wohnung untergebracht wird, entscheidet das Sozialamt – nach einer Stellungnahme der Ausländerbehörde.
Ja, man könne schon sagen, dass sich das Amt nach seiner Empfehlung richtet, sagt Heiko Lohrenz. Einer seiner Kollegen schaut kurz herüber.
Und was hat er empfohlen? „Nun“, sagt er. „Zum einen ist da Sara Blals Straffälligkeit. Das Attest hat auch zu spät vorgelegen. Der Fall wird jetzt noch mal neu bewertet.“ Nein, wann genau eine Entscheidung falle, das könne er nicht vorhersagen.
Ob er Mitleid hat mit dem Mädchen? „Darüber muss ich nachdenken. Nun, sie ist vom Umgang sehr angenehm. Sie tut mir schon leid. Aber dass das Recht nicht immer gerecht ist, muss ich Ihnen ja nicht erzählen.“
Was würde Heiko Lohrenz riskieren, wenn er Sara und Mariam Blal eine Wohnung zubilligt? Was hindert die Nachfolger von Dieter Markhoff im Landtag, das alte Gesetz zu ändern?
„Willst du das Geisterhaus sehen? Komm, ich zeig es dir.“ Mariam läuft die Wiese entlang, vorbei an dem Loch im Zaun, durch das Bewohner manchmal schlüpfen, um Mais vom Feld zu klauen, vorbei an den überfüllten Mülltonnen und dem Sperrmüll und dem Fußballfeld mit den netzlosen Toren, rauf auf einen kleinen Grashügel, den sie Berg nennt. „Siehst du das Haus, das mit den kaputten Fenstern? Da rechts ist eine Tür offen, das weiß keiner. Da sind Gespenster. Wirklich!“ So steht sie da, mit ihrem Finger Richtung Geisterhaus, die Augen aufgerissen. Ein aufgeregtes Mädchen, eingepackt in Schal und Mütze.
Bist du Deutsche, Mariam?
Mariam Blal, acht Jahre alt, geboren in Deutschland, schaut, als hätte sie einen Witz gehört. „Hä? Man sieht doch, dass ich keine Deutsche bin. Deutsche wohnen nicht im Lager.“
■ Emilia Smechowski, 28, ist Volontärin der taz in Hamburg. Sie stammt aus Polen
■ Miguel Ferraz, 36, arbeitet als freier Fotograf und hat portugiesische Eltern