: Der Schily-Erlass öffnete die Tore
Nach Fischers Aussage wird immer klarer, warum Innenminister Otto Schily so laut gegen den Volmer-Erlass wetterte: Er wollte von eigenen Fehlern ablenken, denn das Innenministerium hatte schon vorher einen viel krasseren „Schily-Erlass“ initiiert
AUS BERLIN CHRISTIAN FÜLLER
Otto Schilys Ton war der bekannte. Per Brief rempelte der Innenminister den Kabinettskollegen Joschka Fischer an, sein Verhalten sei „nicht hinnehmbar“. Der Grund für die Aufregung des Sicherheitsministers: Der Visaerlass vom März 2000. Er öffne die Schleusen, so Schilys Befürchtung. Und verprelle die Partner des Schengenraums, jenes Kerneuropas, für das Otto Schily so gern den Oberpolizisten gibt.
Schilys Brief ans Auswärtige Amt (AA) war nur ein Sturm im Wasserglas. Als die beiden Kontrahenten ihren Streit durch ihre Staatssekretäre verhandeln ließen, war die Aufregung im Innenministerium schnell verflogen. „Wir haben damals nach längerer Diskussion geklärt, dass der Erlass nicht gegen Schengenrecht verstößt“, sagt der heutige UN-Botschafter Gunter Pleuger.
Die gütliche Einigung zwischen Innen- und Außenressort wirft im Nachhinein mehr Fragen auf, als sie es schon damals tat. Warum zuckte Schily zurück? Neutrale Gutachter bestätigen im Nachhinein alle juristischen Befürchtungen. Zunächst führte die liberalere Visapolitik schnell zu einem an sich erfreulichen Anstieg der Touristenzahlen – aber leider auch zu verstärktem Missbrauch.
Heute weiß man, warum Otto Schily so schnell klein beigab. Der eigentlich problematische Erlass war nicht in Fischers Außen-, sondern in Schilys Innenministerium ausgeheckt worden. Schon am 15. Oktober 1999 wurde darin festgehalten, dass bei Vorlage so genannter Reiseschutzversicherungen die Konsularbeamten Visa viel freihändiger vergeben könnten. So wurde ein Mechanismus halblegaler Schleusung möglich.
Schilys Haus wusste nicht nur von diesem Oktobererlass, er initiierte ihn sogar. „Die Besprechung fand letztlich nicht im Außenministerium statt, sondern sie fand auf Einladung der Kollegen des Innenministeriums statt“, sagt Stephan Grabherr. Der Beamte Fischers ist zwar der Autor des Papiers – seine Aussage aber macht aus dem kritischen Erlass vom 15. Oktober praktisch einen „Schily-Erlass“. „Das war das Instrument des Betrugs“, sagte Pleuger im Visaausschuss. Genau wie Joschka Fischer, der nur formell die Verantwortung übernahm, in Wahrheit aber die Schuld an der Visamisere elegant an Otto Schily abschob.
Denn das Augenmerk in der Visaaffäre rückt nun immer deutlicher Richtung der so genannten Carnets de Touriste, die mit dem Schily-Erlass praktisch prüffrei wurden. Die Carnets waren von jeher ein Produkt, mit dem sich das Innenministerium schmückte. „Gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt sowie dem ADAC wurde von hier ein Konzept zur Einführung eines so genannten Carnet de Touriste entwickelt“, heißt es bereits 1995 in einem Schreiben aus dem Bundesministerium des Innern. Schilys Haus hat, trotz aller Kritik seines Chefs, dieses Instrument konsequent fortentwickelt.
Während Schilys Bundesgrenzschutz das Carnet schon im Jahr 2000 als höchst sicherheitsanfälliges Dokument identifizierte, arbeiteten die für Visa zuständigen Kollegen weiter an seiner Ausweitung. Im Jahr 2001 empfahl erneut ein Mann Schilys den Kollegen aus dem AA ein neues Produkt: den Reiseschutzpass. Während die Carnets noch halbwegs legal verkauft wurden, vertrieben die Schleuser diesen Schutzpass gleich selbst. Die Schutzpässe, das weiß man heute, erleichterten Menschenhändlern das schmutzige Geschäft, etwa junge Frauen anzulocken und zur Prostitution zu zwingen.
Im Innenministerium weiß man sehr genau über diese Abläufe Bescheid. „Wir haben mit BKA und BGS bei der Aufklärung der Visaaffäre einen guten Job gemacht“, heißt es dort abwehrend. Und: Der Erlass vom 15. Oktober 99 „hat nicht einmal die Referatsleiterebene erreicht“. Will sagen: Otto Schily konnte den Schily-Erlass nicht kennen.
Dass ein ehemaliger Straßenkämpfer wie Joschka Fischer sein Ministerium nicht streng führt, scheint klar. Aber ein Law-and-Order-Mann wie Otto Schily?