: Warten auf Oskar
Auch eine Art Geselligkeit: ein Abend mit der Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit als Reise durch die gesammelten Befindlichkeiten der linken Republik
Es ist kühl in Norddeutschland an diesem Abend Mitte April, es sieht nach Regen aus – doch im Hinterzimmer der Lüneburger Kneipe herrscht Aufbruchstimmung. Gert Brandes (65) vom Landesvorstand der im Januar gegründeten WASG hat die Getreuen um sich versammelt: Die Gründung des Kreisverbandes der neuen „Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ steht in zwei Wochen an, zuvor muss eine Satzung her.
Noch sind die Köpfe seiner politischen Gemeinde schnell gezählt: Zwei Frauen und sieben Männer erwarten ihn auf den Sofas, die das mittlerweile zerknautschte Design der Wirtschaftswunderjahre tragen. Acht der Anwesenden sind Parteimitglieder, eine Interessentin ist zum ersten Mal dabei. Sie alle eint ein Schicksal, das zum kollektiven Albtraum der Republik zu werden droht: außer den beiden anwesenden Pensionären sind alle arbeitslos.
Drei Ex-SPD-Mitglieder, ein Ex-Grüner, der Rest bisher parteipolitisch inaktiv. Aber keinen Job haben und deshalb hoffnungslos deprimiert sein, diese Gleichung wollen sie auf sich nicht angewendet wissen: Die große Politikwende muss her, das steht für alle anwesenden WASGler fest, darum wollen sie aktiv werden.
Auf Schlagworte hat man sich in der Runde schnell geeinigt: Massenarbeitslosigkeit bekämpfen, mehr für Familien und Bildung tun, Sozialabbau stoppen – aber wie der Weg zu diesen Zielen gefunden werden soll, das bleibt im Ungefähren. Politnebel wabert durch den Raum, wenn es um Details geht, um klare Ziele vor Ort, um Strukturen der eigenen Organisation.
Vieles bleibt vage an diesem Abend: Zu jedem Standpunkt gibt es mindestens drei Meinungen, und so werden die Geburtswehen der neuen Bewegungen schnell zu einer Odyssee durch die Befindlichkeiten des linken Spektrums der Nation.
Ein Vorschlag und drei Gegenvorschläge, so geht das eine Weile, bis die Sprache auf ein besonderes Handicap der neuen Partei mit dem umständlichen Namenskürzel kommt: Die Mitgliedszahlen sind noch nicht, wie sie sein sollen. Nur 8.000 Mitglieder hat die WASG bis jetzt bundesweit, das ist etwas mehr als ein Hundertstel von dem, was die gute alte Tante SPD aufzuweisen hat, und die schwächelt schließlich auch.
„Ganz schnell die Zahlen nach oben drücken“ möchte deshalb Gert Brandes von Landesvorstand der Partei, „60.0000 neue Mitglieder in einem Jahr“ schweben ihm vor – nur wie das gehen soll, gerade in Norddeutschland, wo das Wahlvolk weit in der Fläche verteilt und nicht eben schnell zu erreichen ist, darüber sind die Meinungen ein weiteres Mal geteilt.
Ohne Aufmerksamkeit von außen funktioniert es nicht, bloß zeigen sich die Medien spröde. „Wir werden schlicht ignoriert“, findet denn auch Heinz Hanken (67), Ex-Gründungsmitglied der Grünen, der Joschka und Co. vor fünf Jahren den Rücken zukehrte. „Wäre schon gut, wenn Oskar zu uns käme“, sinniert Hanken, und meint damit Lafontaine, denn auf den Poltergeist der SPD schießen sich die Objektive der Kameras automatisch ein.
Immerhin hat der Oskar die „Saarbrücker Erklärung“ mitunterzeichnet, die von führenden Köpfen der WASG initiiert wurde. Weil das Wahlvolk beim Anblick der WASG-ler noch fremdelt, kämen prominente Überläufer gerade recht – oder nicht? Steinkühler, Dreßler, wo die sind, flammen die Scheinwerfer auf – aber auch dazu gibt es kontroverse Ansichten auf dem Sofa, einige möchten lieber mit den „Programmen statt mit Köpfen“ punkten, mit „Ehrlichkeit und Glaubhaftigkeit“ die Menschen überzeugen. Fragt sich allerdings, wie das geht, wenn das Programm der Partei kaum einer kennt. Geld ist keins da, und das wird sich so schnell auch nicht ändern, da widerspricht niemand.
Trotzdem – das ist an dem Abend das meistgebrauchte Wort, denn trotzdem ist es zu schaffen, sagen sie. Wer das hört, begreift, dass die Menschen an diesem Tisch vor allem ihr Idealismus eint, der Wille zum Aufbruch – und die Verärgerung über die SPD, von der sie sich schlicht verraten fühlen: „Die SPD hat sich auf die Seite des Kapitals geschlagen, die hängt sich nur noch ein pseudolinkes Mäntelchen um“, da ist Karlheinz Fahrenwald (57) sicher – und der war immerhin 37 Jahre Mitglied bei den Sozialdemokraten.
Die Abneigung gegen Willy Brandts Erben jedenfalls beruht auf Gegenseitigkeit: Als „fünfte Kolonne der Opposition“ hat Harald Schartau, der Landesvorsitzende der SPD in Nordrhein-Westfalen, die WASG jüngst bezeichnet. „Die SPD hat einfach Angst vor uns,“ meint Gert Brandes dazu, und deshalb ficht ihn die Häme der Genossen nicht an. Ein oder zwei Prozentpunkte weniger für die SPD bei der Landtagswahl in NRW, das würde die „Pseudoroten“ am Wahlabend schon heftig schmerzen – aber eigentlich peilt Brandes die fünf Prozent-Marke für die WASG an.
Dass gerade seine Partei zu einer weiteren Zerstückelung des ohnehin in der Wirtschaftsflaute arg gezauselten linken Politikflügels in Deutschland beitragen könnte, mag er nicht so empfinden. Und auch, dass seinen Leuten das spezifisch niedersächsische Profil fehlt, mit dem man im Land von „everybodys darling“ Christian Wulff Boden gut machen könnte, lässt er nicht gelten. Ihm geht es um Grundsätzliches, es ist die Zukunft des Standorts Deutschland, die ihm Sorge bereitet.
Brandes arbeitet hart, ist jeden Abend in der „Region Südheide“ für die Partei unterwegs, trifft auf Skeptiker und Nörgler, auf Resignierte und auch ein paar Interessierte – und macht weiter: uneigennützig, unermüdlich, unverdrossen. Wo man ankommt, wird man sehen, vorerst ist es der Aufbruch, der ihn ganz ohne das übliche Netz und den doppelten Boden der arrivierten Parteien vorwärts trägt.
Keine Aufwandsentschädigung, kein Dienstwagen mit Fahrer, kein Pöstchen, das zur Belohnung winkend in der Ecke steht: Gerd Brandes ackert auf eigene Rechnung. Zum Abschluss ein Lächeln, ein fester Händedruck. Mittlerweile ist es spät und in Norddeutschland dunkel geworden, draußen hat es zu regnen begonnen. ELKE SCHNEEFUß