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Archiv-Artikel

Auf dem Kopf die Männer

Paul Schrebers „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ inspirierte Freud, Canetti und Deleuze: In der Charité wird jetzt „Der Fall Schreber“ verhandelt

Die Sammlung von Zahnprotesen und Missgeburten in Alkohol verfehlt nicht ihren Effekt. Das Medizinhistorische Museum der Charité als Theaterfoyer: Ein passenderer Ort ist nicht denkbar. Es geht um „Den Fall Schreber“, oder „Was wird mit Gott wenn ich tot bin?!“, eine Produktion des Post Theaters.

Paul Schreber, hochrangiger Jurist, Sohn des Schrebergarten-Schrebers und völlig durchgeknallt, kämpft nicht gegen seinen Wahnsinn, sondern gegen die Irrenanstalt: „Ich bin zwar nervenkrank, leide aber keinesfalls an einer Geisteskrankheit, die zur Besorgung der eigenen Angelegenheiten unfähig macht, (§ 6 B. G. B.) oder die aus Gründen des öffentlichen Rechts meine Festhaltung in einer Anstalt gegen meinen Willen geboten erscheinen lassen könnte.“

Paul Schreber wird von Monika Barth, der deutschen Stimme von Marilyn Monroe, überzeugend gespielt, ohne dass es wegen der Transsexualität zu Irritationen kommt. Immerhin litt der historische Schreber auch unter kräftiger geschlechtlicher Verwirrung, glaubte, durch Zurückziehen seines Geschlechtsteils in den Leib zur Frau werden zu können. Auch ein kräftiger Antisemit und Rassist war er.

Die Texte des Stückes sind direkt Schrebers „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ entnommen – dem Buch, das in seiner Mischung aus Phantastik, Prophetie und Jurismus, vor 100 Jahren erschienen, unter anderem Freud, Canetti und Deleuze inspirierte. Winzig kleine Männer, glaubte Schreber, führten ein kurzes Dasein auf seinem Kopf, bevor sie verschwanden. Seine Erklärung: Es handele sich um Seelen, die bei ihrer Annäherung über viele Nerven verfügen, die sie durch seine körperliche Anziehungskraft einbüßten, bis zu ihrem Verschwinden.

Monika Barth tritt zuerst aus einem Kasten, setzt sich zu einem Mediziner, nimmt ein Brettchen mit der Aufschrift „Gott“ vom Tisch und stellt es auf ein Wandbord, ehe er vom Arzt wieder in den Kasten gebeten wird. Zu dramatischer Musik verwandelt sich der frühere Hörsaal von Rudolf Virchow in einen Gerichtssaal. Es geht um die Entmündigung Schrebers, der die ganze Umwelt für simuliert hält. Seine Kopfschmerzen und Halluzinationen werden von Heidrun Grote, André Erlen und Bernd Rehse gespielt, aber Schreber streitet ab, darunter zu leiden. Eine Besserung seiner Brüllzustände erhofft er sich von einer Entlassung aus der Irrenanstalt.

Bei schönen Lichteffekten durch Baulampen, die alle vier Darsteller herumschwenken, folgt das Publikum gebannt einer gelungenen Inszenierung, deren Reiz darin besteht, nicht zu erleben, wie ein Autor sich Geisteskrankheit vorstellt, sondern sie dokumentarisch in eigenen Texten sprechen zu lassen. Dem Schauspiel ist anzumerken, dass der Regisseur nicht das Ziel hatte, das Publikum zu langweilen. FALKO HENNIG

Heute und morgen, 19 bzw. 21 Uhr, Medizinhistorisches Museum, Charité