: Ich war ein Telefon
So sollte die neue Deutschland AG werden: Alle werden reich mit Aktien. Es war die größte Kollektivlüge der späten Neunziger. Geblieben sind enttäuschte Aktionäre – wie ich. Ein grauer Tag auf der Telekom-Hauptversammlung
AUS HANNOVER HENNING KOBER
Wolken über Hannover. In der Expo- und Messestadt drängen sich viele ältere Herrschaften durch den Hauptbahnhof. Gleiches Ziel für alle: nach dem verlorenen Geld schauen. Die Hauptversammlung der Telekom findet dieses Jahr auf dem ehemaligen Expo-Gelände statt. In der Untergrundbahn, die eigentlich eine Straßenbahn in einem kurzen Stück Tunnel ist, sind alle Sitze belegt, dichtes Stehen. Viele Ehepaare, die sich im Lauf der Jahre optisch angeglichen haben. Herren in bunt gepunkteten, karierten Sakkos, Ledertasche im Griff. Die Mehrheit offensichtlich nicht mehr bei bester Gesundheit. Keine Gespräche, ernst, gespannt.
Schrecklich deutsch
Ja, es ist eine schrecklich deutsche Geschichte. Anfang der Neunziger, aus der Bundesrepublik ist gerade Deutschland geworden, gibt es den Brief und das Telefon. Beides ist gelb und wird verwaltet von einer Beamtenbehörde. Aus der wird dann die Deutsche Telekom AG, in Magenta und Grau, von Gründung an eine ästhetische Beleidigung. Mit ihr hat ein moderner Mensch seinen großen Auftritt. Der ehemalige Sony-Manager Ron Sommer, vom Spiegel später spöttisch „alert-energischer Sonnyboy“ genannt, erzählt von der Zukunft und vom Wettbewerb. Von Internet, Breitband und UMTS. Peter Glotz schreibt ihm die Biografie. Sommer schwärmt von Amerika, da haben alle Aktien, und das funktioniert wunderbar. Auch die Regierung jubelt über die „Volksaktie“. Sommer powert vor dem ersten Börsengang im November 1996: „Die T-Aktie ist so sicher wie eine vererbbare Zusatzrente.“ Viele glauben das. Der Börsengang gelingt, die Aktie steigt. Es kommen die Boomjahre an der Börse. Die Kurse steigen ständig. An manchen Tagen laufen nach der „Tagesschau“ Brennpunkte von der Frankfurter Börse. Am nächsten Morgen tauschen Volksbanken und Sparkassen dann Sparbücher gegen Unternehmensbeteiligungen. Die Deutschen werden Mitbesitzer, man spricht von einer neuen Stufe der Demokratie. Die Zeitungen drucken den Kurs der T-Aktien jetzt auf die erste Seite, neben das Wetter. Die Sonne scheint. Alle fühlen sich wohl wie im Pauschalurlaub in der Dom. Rep. Manfred Krug ist auch dabei. Und die Wirtschaft läuft gut, Jungunternehmer holen sich Geld an der Börse. Es wird konsumiert. Am 1. März 2000 steht der Kurs der Telekom bei 104,90 Euro.
Die Fahrt raus zum Expo-Gelände war lang. Jugendliche in Magenta weisen die Richtung. Am Eingang der TUI-Arena Sicherheitskontrolle, Stimmkarten und die Geschenke: ein schwarzer Kugelschreiber, Aufschrift: „Ich war ein Telefon“.
Es ist 2005. Die neue Deutschland AG ist eine Ruine. Seit November klagen in Frankfurt vor dem Oberlandesgericht 15.000 Kleinaktionäre gegen die Telekom, sie fordern Schadenersatz, 100 Millionen Euro. Beim letzten, dem dritten Börsengang vor fünf Jahren haben sie 63,50 Euro je Aktie bezahlt. Die Telekom AG, immer noch zu 43 Prozent in Bundesbesitz, ist heute 15,40 Euro pro Papier wert. Das Finanzministerium kassierte 15 Milliarden Euro. Der Staat hat sich auf Kosten seiner Bürger saniert. Ron Sommer musste gehen, Schröder wollte die Wahl gewinnen. Sein letzter Satz: „Ich bin doch kein Prophet.“ Manfred Krug beantwortet den Brief eines aufgebrachten Ostdeutschen: „Sie konnten den Hals nicht voll kriegen. Jetzt muss ich mir ihr Gejammer anhören.“
Nächste Woche: DJ Bobo
Wir sitzen in der TUI-Arena, 15.000 Plätze, höchstens zur Hälfte besetzt. Nächste Woche kommt DJ Bobo. Vorne begrüßt Kai-Uwe Ricke „die lieben Aktionärinnen und Aktionäre“. Seine Botschaft: Wieder Erfolg. Weniger Schulden. Mehr Wachstum. Nach zwei Jahren wieder eine Dividende, 62 Cent pro Aktie. Er redet lange und lahm. Die Ersten schlafen ein. Blick rundum, alles ist grausam grau. Der Teppichboden, die Wände, der Stahl an der Decke. Der Anzug des Vorstandsvorsitzenden, ja leider auch fast jeder Aktionär. Müde Gesichter, Kleidung in verwaschenen Farben. Es ist ein trauriges Bild von Deutschland. Die Menschen haben nicht nur ihr Geld verloren, sie verlieren jetzt auch ihre Zeit.
Draußen an der Bar wird das erste Bier ausgeschenkt, Warsteiner. Auf Monitoren wird Ricke übertragen. Neben mir sitzen zwei aus Köln, Ende Zwanzig. Tim, Lehrer an einer Grundschule, sagt: „Die totale Witzveranstaltung, wie wenn du als Kleinaktionär irgendetwas bewirken könntest.“ Auf seinem Stimmblock kreuzt er trotzdem schon mal alle Nein-Kästchen an. Sein Freund und Kollege Stefan meint: „Die Telekom ist wie Hitlers Autobahn für unsere Opas. Sah schön aus, Optimismus, die Arbeitslosen verschwanden, aber wurden doch nicht richtig bezahlt, und später fuhren die Panzer drüber.“ Jugendliche in Magenta-Jacken bringen Platten mit belegten Brötchen. Es sind die billigsten, eine Scheibe Käse oder Wurst, halbe Olive. Die Leute, die jetzt in immer größerer Zahl aus dem Saal kommen, stehen Schlange. Es ist schwer zu ertragen. Ich gehe raus, sitze auf der Expo-Plaza, rauche. Die Gebäude sehen aus, als stünden sie auf dem Mond. Der Ort ist eine schöne Metapher für den Telekom-Taumel. Die Expo: auch ein gigantischer Flop.
Ich bin Miteigentümer
Ja, auch mir gehört die Deutsche Telekom AG. Ich bin Aktionär, 27 Stück. Es war vor fünf Jahren, Frühsommer 2000. Ich war 18 und hatte mehr Geld, als ich ausgeben konnte. In der Schule hatten wir schon Aktien gekauft, virtuell, ein Börsenspiel. Eine Freundin hatte eines Montagmorgens achtlos Champagner mit in die Raucherecke gebracht. Infineon, sie hatte Glück mit der Zuteilung. Mit einem Anruf bei der Bank hatte sie ein bisschen Erspartes in einen 3er-BMW verwandelt, den sie sich dann später glücklicherweise auch gekauft hat. So angefixt, rief ich meine Sparkassenberaterin an, Sonja Reusch, von der ich als Kind mein erstes Sparschwein bekommen hatte. Sie war etwas zögerlich: Könnte sein, dass die eine Weile gehalten werden müssen. Die Börse, man weiß nie. Aber gedankenlose Gier hört nicht, ich orderte. Inzwischen sind aus 3000 Mark 400 Euro geworden, und jedes Jahr, wenn die Rechnung für die Depotgebühren kommt, werde ich daran erinnert.
Klar ist: Ich kaufe nie wieder eine einzige Aktie. Aus Prinzip. Und ich will nie so viel Geld haben, dass die Verwaltung Zeit in Anspruch nimmt. Nur genug, um immer Freunde anrufen zu können. Von überall, das wäre gut.
Wissen Sie eigentlich warum Arnold Schwarzenegger in Kalifornien zum Gouverneur gewählt wurde? Weil im Sonnenstaat das Licht ausging. Am Jahresanfang 2001 lieferten die Kraftwerke über mehrere Monate zu wenig Strom. Die Wirtschaft stand still. In den Straßen von Los Angeles krachten Autos ineinander, weil die Ampeln ausfielen. Die Bürger demonstrierten wütend. Vor allem gegen den demokratischen Gouverneur Gray Davis, der kurz zuvor noch als Präsidentschaftskandidat gehandelt worden war. Doch wie kam es zu den Stromausfällen? Im Internet und in dem Dokumentarfilm „The Smartest Guys in the Room“, der dieses Jahr auf dem Sundance-Festival Premiere hatte, kann man Tondokumente hören. Zum Beispiel: „Wenn wir 30 sind, müssen wir nie mehr arbeiten und sind Millionäre.“ Oder: „Ja, lass uns mit dem Sparbuch der kleinen kalifornischen Großmutter spielen.“ Es sind Dialoge unter Brokern des Energiehändlers Enron. Das texanische Unternehmen war zu dieser Zeit der siebtgrößte US-Konzern, 21.000 Mitarbeiter, 60 Milliarden Dollar Börsenwert, CEO Ken Lay ein enger Freund der Familien Bush und Cheney. Mit gezielten Manipulationen haben Mitarbeiter von Enron den Strom in Kalifornien künstlich verknappt, um die Preise und eigenen Gewinne in die Höhe zu treiben. „Gaming the market“ heißt das. Davis sagte vor kurzem während eines Vortrags an der Universität von Los Angeles: „Während ich gegen Enron kämpfte und auf Unterstützung aus Washington drängte, saßen die mit Dick Cheney zusammen.“ Unter dem Eindruck der Energiekrise gewann der Republikaner Schwarzenegger die Neuwahl im Oktober 2001. Drei Monate später musste Enron Insolvenz anmelden. Bald beginnt der Prozess gegen die noch lebenden Mitglieder des Managements.
Aus Fehlern gelernt
In der Straßenbahn zurück in die Stadt ist die Stimmung jetzt gelöst. Es ist früher Nachmittag. Man unterhält sich. Man war da. Hat das jetzt auch mal gesehen und weiß, was man ja schon immer weiß: „Die Großen nehmen es von den Kleinen.“ Es werden die individuellen Leidensgeschichten ausgetauscht. Aber jetzt, nach ein paar Bieren und kostenlosen Brötchen, fällt es auch leichter, zu sagen: „Aus Fehlern lernt man nur, wenn sie richtig wehtun.“ Zwei blondierte Damen, die offenbar in derselben Straße wohnen, kommen im Gespräch auf den Sohn der einen. Er spricht nicht mehr mit seiner Mutter. „Er ist ja zusammen mit dieser Farbigen.“ Die andere nickt und wechselt schnell das Thema, der Kirschbaum muss dieses Jahr ordentlich gestützt werden.