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Archiv-Artikel

Junges SorgenkindSorge eins: Arbeitslosigkeit

Haben sich ein Jahr nach der Osterweiterung die größten Befürchtungen wirklich bewahrheitet?

Skeptikern wurde die Erweiterung ursprünglich als großes Konjunkturprogramm verkauft. Von 70 Millionen Verbrauchern in Osteuropa würden neue Impulse ausgehen, hofften die Erweiterungsbefürworter. Doch die Wirtschaft kam nicht in Schwung. In den letzten zwölf Monaten hat sich das Wachstum in beiden Teilen Europas ständig verlangsamt. Am schlimmsten hat es Deutschland getroffen, das von der Erweiterung ja eigentlich am meisten profitieren sollte.

Allerdings ist der Zusammenhang nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick aussieht. Gerade die deutschen Unternehmen haben die Märkte in Osteuropa schon in den 90er-Jahren erobert. Im Beitrittsjahr 2004 haben sie Waren im Wert von 60 Milliarden Euro in den Beitrittsländern verkauft, fast zwei Drittel mehr als fünf Jahre zuvor. Der Wert ihrer Tochterfirmen und Fabriken beläuft sich auf 23 Milliarden Euro. Einige Wirtschaftsexperten glauben, dass dadurch Arbeitsplätze in der alten EU gesichert worden sind und der wirtschaftliche Einbruch in Deutschland ohne die Erweiterung noch viel drastischer ausgefallen wäre.

Dagegen hat die Münchner Wirtschaftsprofessorin Daila Marin herausgefunden, dass fast die Hälfte der deutschen Firmengründungen in Osteuropa Betriebsverlagerungen aus Kostengründen sind. Die Konzernzentralen im Westen werden von ihren Filialen im Osten kostengünstig beliefert und sichern so ihren Wettbewerbsvorteil. Dadurch gehen aber in der alten EU Arbeitsplätze verloren.

Unter dem Strich ist diese Bilanz zurzeit etwa ausgeglichen, jedenfalls in Deutschland. Das könnte sich ändern, wenn mehr Osteuropäer als bisher ihre Arbeitskraft direkt auf dem deutschen Arbeitsmarkt anbieten. Durch Übergangsfristen, in denen jedes Land die Freizügigkeit beschränken kann, wurde das bislang in Deutschland und Österreich verhindert. Andere EU-Staaten gehen wesentlich offensiver mit der Tatsache um, dass in den neuen Ländern viele qualifizierte Arbeitskräfte auf eine Chance warten. Die Briten zum Beispiel werben systematisch die besten Leute an, die sie in den neuen Mitgliedstaaten finden können. Der restriktive deutsche Kurs wird deswegen von einigen Politikern kritisiert. Sachsens Europaminister Stanislaw Tillich zum Beispiel hält die Tatsache, dass die sächsischen Unternehmen keine Ärzte oder Ingenieure aus Polen oder Tschechien einstellen können, für einen großen Nachteil im europäischen Wettbewerb.

Sorge zwei: Der Osten ist zu arm

Was Umverteilung zwischen Ost und West bedeutet, kennen die Deutschen aus der Steuererklärung. Es nennt sich Solidaritätszuschlag. Auf europäischer Ebene heißt es Strukturförderung. Die ärmsten Regionen Europas bekommen auf dem Umweg über Brüssel von den reichen Ländern Unterstützung. Am 1. Mai 2004 sind die einst ärmsten Regionen wie Mecklenburg oder Kreta über Nacht, relativ gesehen, reicher geworden. Wenn die Spielregeln für die Verteilung der Fördermittel nicht geändert werden, laufen viele Förderungen mit dem Ende der laufenden Finanzperiode 2006 aus.

Hinter den Kulissen hat das Hauen und Stechen schon begonnen. Es geht um die Finanzplanung für die Jahre 2007 bis 2013. Alle 25 Mitgliedstaaten müssen sich einigen, wie viel Geld sie künftig in die EU-Kasse zahlen wollen und wie es verteilt werden soll. Es ist die letzte fi-nanzielle Vorausschau, die einstimmig beschlossen werden muss. Spanien hatte bei der letzten Vertragsreform durchgesetzt, dass dieses Vetorecht noch einmal verlängert wird. Es hoffte, so seine Strukturfondsmittel über die Erweiterung hinaus zu retten.

Diese Rechnung wird wohl nicht aufgehen, denn die alten EU-Länder haben unterschiedliche Interessen und blockieren sich mit dem Veto gegenseitig. Deutschland will die Finanzplanung nur abnicken, wenn der EU-Beitrag jedes Landes ein Prozent des BIP nicht übersteigt. Diese Position teilt es mit den Nettozahlerländern Schweden, Niederlande, Großbritannien, Frankreich und Österreich. Doch von dieser Grundforderung abgesehen, trennt die sechs Länder mehr als sie verbindet.

Deutschland sorgt sich um die Zukunft der Strukturförderung für Ostdeutschland und will großzügige Übergangsfristen. Großbritannien will auch in Zukunft vier Milliarden Euro jährlich aus der EU-Kasse zurück, obwohl das Land finanziell viel besser dasteht als 1984, als Margaret Thatcher den so genannten Britenrabatt aushandelte. Man könnte doch woanders sparen, zum Beispiel an den Agrarausgaben, meint Tony Blair. Doch die Agrarausgaben sind nun wieder den Franzosen heilig, die den Gründungsmythos der europäischen Agrarunion nicht aufgeben wollen. Deutschland würde die Subventionen gern zurückfahren, versagt sich aber derzeit in Treue fest jegliche von Paris abweichende Position.

Trotz dieser ausweglos scheinenden Gemengelage hat sich der amtierende Ratspräsident Jean-Claude Juncker das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis Ende Juni eine Grundsatzeinigung zu erreichen. Niemand, so glaubt er, kann ein Interesse daran haben, die Verhandlungen ab dem 1. Juli unter britischer Ratspräsidentschaft fortzusetzen. Doch ein für alle akzeptabler Kompromiss ist nicht in Sicht. Von deutscher Seite gibt man sich sehr gelassen. Sollte das Finanzpaket nicht rechtzeitig geschnürt werden, gibt es eben ab 2007 überhaupt keine von der EU geförderten Infrastrukturprojekte mehr. Für Deutschland wäre das allemal die billigste Lösung.

Sorge drei: Alles versinkt im Chaos

Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Routine der EU aus 25 Mitgliedern kaum von der EU-15. Wer genauer hinsieht, erkennt allerdings, dass vieles mühsamer und langsamer geworden ist. Die gestiegene Sprachverwirrung ist zweifellos das größte organisatorische Problem. In jeder der neun neuen Sprachen werden 80 neue Dolmetscher gebraucht, nur für Polnisch und Ungarisch ist der Mitarbeiterstab inzwischen komplett. Bei den Übersetzern, die jedes Jahr 1,3 Millionen Seiten Papier in die EU-Sprachen übertragen müssen, hat keine Sprache die nötige Personalstärke erreicht.

Immer häufiger gerät der Zeitplan ins Rutschen, weil ein Kommissionsentwurf den Abgeordneten nicht in ihrer Muttersprache vorliegt. Letzte Woche gab es Probleme mit der Richtlinie über die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen. Sie konnte im zuständigen Ausschuss nicht debattiert und abgestimmt werden, weil der Text nicht in alle Sprachen übersetzt war.

Auch politisch sind die Verhandlungen im Parlament schwieriger geworden. Die alten Hasen stellen fest, dass den Kollegen aus den neuen Ländern das Europagefühl noch abgeht. Sie seien viel stärker an ihr Heimatland gebunden, nationale Interessen hätten für sie einen höheren Stellenwert als das gemeinsame europäische Ganze. Deshalb seien gemeinsame Positionen viel schwerer zu erreichen als mit den Kollegen aus den alten EU-Staaten, die hin und wieder durchaus vom Mythos der europäischen Sache beseelt seien.

Als Reaktion darauf wird mehr hinter den Kulissen gemauschelt und nach Kompromissen gesucht. Seit der Erweiterung ist kein einziges offizielles Vermittlungsverfahren eingeleitet worden, um Differenzen zwischen Rat und Parlament bei einem Gesetzesprojekt auszuräumen. Das auf über 50 Mitglieder angewachsene Gremium scheint nicht mehr in der Lage, innerhalb der vorgeschriebenen Frist von sechs Wochen eine für alle Beteiligten akzeptable Formulierung auszuhandeln. Deshalb wird oft vor der zweiten Lesung im Europaparlament ein informelles Dreiergespräch zwischen Rat, Parlament und Kommission gestartet. Der Transparenz dient dieses Verfahren, das in den Verträgen gar nicht vorgesehen ist, ganz sicher nicht.

Sorge vier: Die EU wird zu groß

Es hört sich an wie ein Aufruf zum letzten Gefecht: „Die schweren Geschosse aus Europas linkem Lager tragen die Referendumsschlacht nach Paris“, titelte ein Pressesprecher der europäischen Sozialisten gestern. Das klingt verzweifelt und ist wohl auch so gemeint. Am dritten Mai wollen hundert Sozialisten aus dem Lager der Verfassungsbefürworter in der Pariser Nationalversammlung ihre schwankenden französischen Genossen davon überzeugen, am 29. Mai beim Referendum zur Verfassung mit Ja zu stimmen. „Die Verfassung ist der Schlüssel, um Sozialpolitik in Frankreich und überall in Europa voranzubringen“, behauptet Martin Schulz, Fraktionschef der Sozialisten im Europaparlament.

Doch die Wähler wollen das nicht glauben. Den psychologischen Effekt, den das zeitliche Zusammentreffen von Verfassungsdebatte und Erweiterung erzeugt hat, haben die Politiker unterschätzt. In den Köpfen der Franzosen hat sich die Wirtschaftsflaute, die Billigkonkurrenz aus dem Osten, die Verlagerung von Produktionsstandorten dorthin und die Türkeidebatte zu einem einzigen Hasswort verfestigt, und das lautet: constitution, Verfassung. Die von Europaphilosophen aller Lager und Nationalitäten so lang und gern gewendete Frage, ob sich Erweiterung und Vertiefung befruchten oder ausschließen, haben Europas Bürger längst für sich entschieden. Zu viel Veränderung auf einmal tut nicht gut, meinen sie und machen sich daran, der Union eine Denkpause zu verordnen.

Ob sich der Erweiterungszug dadurch noch aufhalten lässt, ist fraglich. Es gibt aber Anzeichen, dass die mit der Erweiterung befassten Politiker den Zusammenhang erkannt haben. Nachdem im März in Istanbul Polizisten Demonstrantinnen zusammengeschlagen hatten, war die Reaktion aus Brüssel ungewöhnlich scharf. Bulgarien und Rumänien haben eine Sicherheitsklausel in ihren Beitrittsvertrag gedrückt bekommen. Und Kroatien ist wegen mangelnder Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag erst einmal wieder in die Warteschleife geschickt worden. Europas Wähler haben die Frage, wo Europa endet, ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt.