: „Erweiterung eröffnet Chancen“
Wirtschaftssenator Harald Wolf (PDS) zieht eine positive Bilanz der EU-Osterweiterung. Und fordert die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Festlegung von Mindeststandards
taz: Herr Wolf, am 1. Mai jährt sich die EU-Osterweiterung. Erfüllt Sie das mit Freude?
Harald Wolf: Ja, weil dies ein historisches Datum ist. Die Erweiterung der Union eröffnet Berlin große Chancen, weil wir damit in eine zentraleuropäische Lage und in die Mitte einer größeren Region gerückt sind. Das bietet uns die Möglichkeit, regionale Verflechtungen aufzubauen, und zwar in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft. Wenn man einen 300-Kilometer-Radius um Berlin zieht, stellt man fest, dass die wichtigsten Ballungsgebiete in Polen liegen.
Was hat der Beitritt der Berliner Wirtschaft gebracht?
Die Exporte nach Polen sind deutlich gestiegen, um fast acht Prozent. Beim Außenhandel Berlins mit den Beitrittsländern liegt der Schwerpunkt eindeutig auf Polen. Deutlich zugenommen hat auch die Zahl der polnischen Touristen in Berlin, im ersten Halbjahr 2004 hatten wir eine Zunahme von 21 Prozent. Am dynamischen Wachstum in Polen und den Milliarden, die dort in den Ausbau der Infrastruktur fließen, können Berliner Unternehmen auch in Zukunft partizipieren.
Im Moment bestimmt die Angst vor der Billigkonkurrenz, etwa in Schlachthöfen, die Diskussion. Wird das historische Ereignis damit zerredet?
Diese Diskussion spiegelt nicht den langfristigen Trend. Die Bundesrepublik hat Nachholbedarf bei den Themen Entsendegesetz und Mindestlöhne, dies kann man nicht der EU anlasten. Und in der Handwerkskammer war die Stimmung vor drei Jahren schlechter als heute. Viele Handwerksbetriebe gehen nach Polen, entwickeln Partnerschaften. Das ist ein Fortschritt, der nachhaltiger ist als die aktuelle, kurzfristige Diskussion.
Ist das eine Scheindebatte?
Die Missstände hier haben auch etwas damit zu tun, dass es noch keine Arbeitnehmerfreizügigkeit gibt. Wir wären in der Region besser aufgestellt, wenn wir zwei Regelungen hätten: Arbeitnehmerfreizügigkeit und gleichzeitig Mindeststandards für Beschäftigung. Eine Umfrage unter Berliner Unternehmen hat gezeigt, dass hier eine positivere Stimmung herrscht als im Bundesdurchschnitt. Und wir haben eine starke Zunahme polnischer Gewerbeanmeldungen in Berlin.
Sind dies nicht vorwiegend Scheinselbstständige?
Ich glaube nicht, dass das alles Scheinselbstständige sind. Wobei der Prozentsatz bei den Ein-Personen-Gesellschaften in der Tat hoch sein dürfte.
Sind dies vielleicht aber auch Menschen, die vorher schwarz gearbeitet haben und jetzt immerhin Steuern zahlen?
Es gibt gute Gründe für die Vermutung, dass diejenigen, die jetzt in der Gewerbestatistik auftauchen, schon vorher hier waren – und jetzt legal arbeiten.
Ist das ein Grund dafür, dass Berlin im Vergleich zu anderen Ländern so gelassen reagiert?
Das ist zumindest bei mir der Grund. Der Missbrauch muss aber bekämpft werden.
Auf dem Bau gibt es diverse Möglichkeiten, die Mindeststandards zu umgehen.
Bei jeder gesetzlichen Regelung gibt es Bestrebungen, diese zu umgehen. Das kann aber kein Grund sein, auf Regelungen zu verzichten. Zudem herrschen auf dem Bau besondere Bedingungen: Im Handwerk oder in der Industrie lassen sich bestimmte Regeln einfacher überprüfen. Wenn kriminelles Handeln vorliegt, müssen wir auch über schärfere Sanktionen für die Unternehmen nachdenken.
INTERVIEW: UWE RADA UND RICHARD ROTHER