Chinas Freund aus der Ferne

AUS PEKING GEORG BLUME

So wurde noch kein Besucher in der Volksrepublik empfangen. In der alten Kaiserstadt Xian übten Schulkinder ein Gedicht aus der Zeit der Tang-Dynastie ein, um den Gast zu ehren, der ihre Schule besuchte: „Man verließ die Heimat als kleines Kind und kehrt alt geworden zurück. Der Akzent bleibt unverändert, nur die Haare sind grau geworden“, lautete der erste Vers. Der weil läuteten in Nanking die Friedensglocken des Tianfei-Tempel und in Peking schloss das alte Laoshe-Teehaus, um den Besucher heute mit Volkstanz und Peking-Oper empfangen zu können.

Konfuzius gibt eine Ahnung von dem für westliche Beobachter schwer nachvollziehbaren Spektakel: „Die Ankunft von Freunden aus der Ferne – stimmt sie etwa nicht heiter?“ lautet einer der bekanntesten Aussprüche des alten Meisters. Ihm folgt heute im Geiste die KP-Choreografie für das erste politische Spitzentreffen zwischen China und Taiwan seit Teilung des Landes vor 56 Jahren.

Natürlich ist das Ganze eine Falle, denn es wirkt wie ein vorweggenommenes Fest der Wiedervereinigung, von der auf Taiwan niemand etwas wissen will. Aber Lien Chan geht das Risiko ein. Der 68-Jährige ist auf Taiwan nur Oppositionsführer, aber er ist der Chef der taiwanischen Nationalisten, der 1911 gegründeten Kuomintang (KMT), der ältesten demokratischen Partei Chinas, der reichsten Partei der Welt. Er ist erst der fünfte Parteichef der KMT. Sun Yat-sen gründete die Republik, Chiang Kai-shek führte den Krieg gegen Japan und floh vor den Truppen Mao Tsetungs nach Taiwan, sein Sohn Chiang Ching-kuo verwaltete das Erbe des Vaters, Lee Teng-hui führte Taiwan in die Demokratie. Was blieb für Lien Chan? Zwei Wahlniederlagen gegen den taiwanischen Präsidenten Chen Shui-bian und eine Fahrt nach China. Er musste die Reise antreten.

Jetzt begleiten den Besucher die Schlagzeilen, von denen er immer träumte: „Die entscheidendste Woche in der Geschichte beider Seiten“, bejubelt das KP-Wochenblatt China Newsweek. Alle Parteimedien, aber auch die freien Medien in Hongkong sprechen von einem historischen Ereignis, wenn er heute auf den 62-jährigen KP-Chef Hu Jintao trifft. Zuletzt kam es zu einem solchen Parteigipfel im August 1945, als Mao Tsetung und Chiang Kai-shek gemeinsam über die japanische Kapitulation brüteten. Was ist heute anders?

Nicht viel, würde Taiwans Präsident Chen Shui-bian antworten. Er glaubt, dass die Pekinger Kommunisten bis heute nichts anderes im Sinn haben, als Taiwan heim ins Reich zu holen und die junge Demokratie der Insel zu zerstören. Deshalb befürwortet er die Unabhängigkeit der Insel. Er lässt keine Direktflüge zwischen den beiden Chinas zu, er verbietet chinesischen Fischern ihre Ware an den Küsten der Insel zu landen und unterbindet innerchinesische Firmenzusammenschlüsse. Chen versuchte auch, Liens Reise zu verhindern, doch Washington hielt ihn zurück. Die USA haben der Insel eine Sicherheitsgarantie gegeben. Aber sie wollen weder von Taipeh noch Peking gezwungen werden, sie einzulösen.

Seit Tagen beteuern hohe KP-Kader, dass man nichts unversucht lassen werde, was dem Frieden mit Taiwan zuträglich sei. Bisher unternahm man eher Gegenteiliges: Seit Jahren erhöht Peking beständig die Zahl seiner Mittelstreckenraketen, die auf Taiwan zeigen. Im März verabschiedete der parteikontrollierte Volkskongress ein Gesetz, dass Taiwan ausdrücklich mit Krieg droht, falls die Insel nicht näher definierte Schritte in Richtung ihrer Unabhängigkeit tätige. Wird Parteichef Hu nun einige Raketen abziehen, wie die Hongkonger Zeitungen spekulieren?

Peking habe die Wahl zwischen zwei Strategien, meint der amerikanische China-Experte Kenneth Lieberthal: Entweder man benutzt Lien Chan, um indirekt mit Taipeh zu verhandeln, oder man kooperiert mit Lien, um die Regierung Chens zu isolieren. Die Suche nach Harmonie wäre eine konfuzianische Strategie, die Spaltungsstrategie eher maoistisch.