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Archiv-Artikel

Als Galloway ins East End einfiel

Jack the Ripper und die Kray-Bande – das Viertel wurde zu einem Mythos

AUS LONDON RALF SOTSCHECK

Sie kann ihn nicht leiden. Einmal hat sie ihn einen „schnauzbärtigen Demagogen“ genannt und ihm „sexuelle Ausschweifungen“ unterstellt. Dafür musste sie 1.000 Pfund an eine Wohlfahrtsorganisation zahlen.

Oona King, die 37 Jahre alte schwarze Labour-Abgeordnete, will bei den britischen Parlamentswahlen am nächsten Donnerstag ihren Unterhaussitz im Ost-Londoner Wahlkreis Bethnal Green und Bow verteidigen. Es ist einer der ärmsten Gegenden der britischen Hauptstadt, und eigentlich galt ihr Wahlsieg als sicher, denn das East End war immer eine Labour-Hochburg. Bis George Galloway kam.

Galloway ist im vergangenen Oktober aus der Labour Party geworfen worden. Der Schotte hatte Tony Blair und George Bush vorgeworfen, sie seien wie die Wölfe über den Irak hergefallen. Dafür hat er sich später entschuldigt – allerdings nicht bei Blair und Bush, sondern bei den Wölfen, die „edle Tiere“ seien.

Bisher saß Galloway als Abgeordneter für Glasgow-Kelvin im Unterhaus, doch nun ist er nach London gezogen und „Respect“ beigetreten. Die Engländer lieben Akronyme. „Respect“ steht für „Resistance, Equality, Socialism, Peace, Environment, Community and Trade Unions“, es ist ein Zusammenschluss verschiedener linker Gruppen. Am stärksten ist die Organisation in Bethnal Green und Bow. Bei den Europawahlen kam sie auf 30 Prozent der Stimmen, 6 mehr als Labour, aber für ein Mandat reichte es nicht, weil Bethnal Green Teil eines größeren Wahlkreises war. Galloway rechnet sich diesmal gute Chancen aus, denn mehr als die Hälfte der Wähler sind Muslime, die meisten aus Bangladesch, und Oona King hat Tony Blairs Irakkrieg energisch unterstützt. Weder die Tories noch die Liberalen Demokraten spielen eine Rolle, obwohl sie muslimische Kandidaten aufgestellt haben.

Der 50 Jahre alte Galloway sieht gut aus. Er ist braungebrannt und stets makellos gekleidet. Er trägt einen schwarzen Anzug, der nicht von der Stange ist, ein graues Hemd und eine grau-schwarze Krawatte. Sie nennen ihn „Gorgeous George“, den hinreißenden George, seit er mal zugab, bei einer Konferenz in Athen „intime Kontakte zu mehreren Griechinnen“ gepflegt zu haben.

Galloway kann auch zu Männern charmant sein. Vor der Lawdale-Grundschule in der Mansford Street, wo er nach Schulschluss die Eltern abpasst, wartet ein mürrischer junger Vater im Auto auf seinen Sohn und ruft aus dem heruntergekurbelten Fenster, dass alle Politiker „Bullshit“ reden. Galloway verwickelt ihn in ein Gespräch, nach wenigen Minuten nimmt der Vater das Flugblatt und verspricht, Respect zu wählen. Als dann noch ein Achtjähriger angerannt kommt und ruft, dass Blair ein Lügner sei, strahlt Galloway.

So glatt geht es nicht immer. Aus dem benachbarten Sozialbau, dem zweiundzwanzigstöckigen „Charles Dickens House“, tritt ein Mann irakischer Herkunft heran, beschimpft den Respect-Kandidaten und entrollt ein Foto, auf dem Galloway die Hand Saddam Husseins schüttelt. Galloway war im August 2002 in Bagdad und schrieb danach in der Mail on Sunday, dass der „schüchterne Diktator“ ihm englische Pralinen angeboten und seine Bewunderung für Londons Doppeldeckerbusse ausgedrückt habe. Der Iraker mit dem Foto nenne sich Salman Pax, sagt Galloway später, sein Vater sei ein Minister der bisherigen Allawi-Regierung im Irak.

Die Bagdadreise verfolgt Galloway. Er wurde als Landesverräter beschimpft, als naiver Trottel verlacht. Doch im East End ist der umstrittene Handshake nicht unbedingt ein Nachteil. Der Irakkrieg, der im Wahlkampf sonst vor allem in Blairs Wahlkreis eine Rolle spielt, weil dort der Vater eines im Irak getöteten Soldaten gegen den Premier antritt, kann in Bethnal Green und Bow die Wahl entscheiden. So kommt es Galloway gerade recht, dass am vorigen Wochenende Dokumente aufgetaucht sind, wonach Generalstaatsanwalt Lord Goldsmith im März 2003 einen Angriff auf den Irak für illegal hielt. Galloway will die Wahl zum Referendum über den Krieg machen.

Londons East End war seit Jahrhunderten Anlaufstelle für Immigranten. Das Viertel ist zum Mythos geworden. Hier gewann Keir Hardy 1892 als erster Labour-Politiker einen Parlamentssitz, hier verbreiteten Jack the Ripper und später die Gangsterbrüder Kray Angst und Schrecken. Heute herrscht Multikulti. Aber es ist keine Idylle: Nur in drei englischen Wahlkreisen ist die Arbeitslosigkeit höher als in Bethnal Green und Bow, mehr als 70 Prozent der Menschen wohnen zur Miete – dreimal so viele wie im Landesdurchschnitt. Zwei Drittel davon leben in Sozialbauwohnungen. In keinem Wahlkreis gibt es mehr Kinder, für die Englisch die Zweitsprache ist.

Und nirgendwo wird der Wahlkampf härter geführt. Vor drei Wochen ist Oona King bei einer Gedenkfeier für jüdische Holocaust-Opfer mit Eiern beworfen worden, die Reifen ihres Autos wurden aufgeschlitzt. Sie behauptet, Galloways Leute betonten bei muslimischen Wählern, dass sie Jüdin sei und man sie deshalb nicht wählen dürfe. Sie wurde 1967 als Tochter der schwarzen US-Bürgerrechtlers Preston King und der jüdischen Lehrerin Hazel King geboren.

Auch Galloway kam nicht ungeschoren davon. Einen seiner Wahlkampfauftritte stürmten 30 Männer der Gruppe al-Ghuraaba – „die Fremden“ –, drohten ihm mit dem Galgen und erklärten Muslime, die am 5. Mai ihre Stimme abgeben, zu Ungläubigen. Danach brach eine Straßenschlacht zwischen den „Fremden“ und Galloways Leuten aus.

An Straßenschlachten ist man im East End gewöhnt. In den Achtzigerjahren hat man hier die rechtsextreme British National Party bekämpft und in den Dreißigerjahren die Anhänger von Oswald Mosley, dem Gründer der „British Union of Fascists“. In der Cable Street erinnert eine Plakette an die berühmteste Straßenschlacht: „The Battle of Cable Street“ von 1936. Auch Mosley war früher Unterhausabgeordneter der Labour Party, auch er hatte einen Schnurrbart. So war Kings Beschreibung Galloways als „schnauzbärtiger Demagoge“ eine gezielte Schmähung.

Galloway hat eine steile Karriere in der Labour Party hinter sich, jedenfalls bis zu seinem Hinauswurf. Er trat mit 15 der Labour Party bei, war mit 18 der jüngste Parteisekretär aller Zeiten, wurde mit 27 Vorsitzender der schottischen Labour-Partei und zog mit 32 ins Unterhaus ein.

2002 traf Galloway Saddam – und nannte ihn einen „schüch-ternen Diktator“

Er ist optimistisch, dass er wieder gewählt wird. „Die Wahlbeteiligung wird bei 60 bis 70 Prozent liegen“, prophezeit er. Beim letzten Mal gab nur die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Als er die Bethnal Green Road hinunterläuft und die Geschäfte abklappert, nehmen viele sein Wahlplakat und hängen es ins Schaufenster: eine Wäscherei, ein Videoverleih, ein Schreibwarenladen. Auch bei der Feuerwehr versprechen sie, ihn zu wählen, denn die Labour-Regierung will ihnen einen Löschzug wegnehmen.

Zur Wahlkampfveranstaltung am Abend in der Methodistenhalle, einem schmucklosen Raum mit Holzstühlen, hat Galloway seinen dreijährigen Enkel Seán mitgebracht. Kinder kommen immer gut an. Im Saal sitzen etwa 50 Leute, hauptsächlich Weiße. Was ist mit den Renten, wollen sie wissen, was mit dem Wohnraum? Galloway sagt, dass die Labour-Stadtverwaltung die Sozialwohnungen verkaufen und die Bewohner umsiedeln wolle, weil Bethnal Green genau zwischen der altreichen Londoner City und der neureichen Canary Wharf am Hafen liege. Die Schneise dazwischen hätten sie gerne für ihre Penthäuser und Luxusrestaurants.

Und was ist mit der Einwanderung? Galloway antwortet, es könne gar nicht genug Immigranten geben. „Schottland ist meschenleer, die suchen händeringend Einwanderer“, sagt er. „Großbritannien sieht besser aus, es klingt besser, und es schmeckt besser als in den Fünfzigerjahren, in denen ich aufgewachsen bin.“ Und es riecht besser, vor allem in der Brick Lane. Die Straße ist für das East End untypisch, sie ist in ihrer Exotik zum Modeort geworden. Zwar gibt es noch immer die vielen Curry-Häuser, aus deren Küchen der verführerische Geruch auf die Straße strömt, doch dazwischen haben sich Yuppie-Oasen breit gemacht. Das langgezogene Gebäude der alten Truman-Brauerei, die längst weggezogen ist, beherbergt jetzt einen Musikclub und, hinter einer Glasfront, ein Restaurant. Wo früher Bierlastwagen hineinfuhren, sind nun Restaurants, ein Bioladen und ein Boutique untergebracht.

Neulich lief Oona King mit Ken Livingstone, dem Bürgermeister von London, durch die Brick Lane. Wegen der Zwischenfälle schirmte die Polizei die beiden von den Wählern ab. Nach einem kurzen Auftritt in einem der Curry-Häuser verschwand sie wieder. Sie habe von Anfang an gewusst, sagte King, dass ihre Zustimmung zum Irakkrieg sie wegen des muslimischen Votums den Job kosten könne.

„Es gibt kein muslimisches Votum“, erklärt Galloway. „Das ist einfach arrogant. Die muslimische Gemeinde ist genauso heterogen wie andere Bevölkerungsgruppen.“ Vorsichtshalber hat er sich aber in vielen Punkten, wie bei der Abtreibung, die konservative Position des Islams zu Eigen gemacht und tritt gegen Cannabis ein. Man kann ja nie wissen.