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Archiv-Artikel

„Hier wohnte ...“

Gedenken auf dem Gehsteig: Gunter Demnigs Stolpersteine für die Opfer des NS-Regimes sind blinkende Erinnerungen. Geschichte passiert auch im eigenen Haus

VON DANIEL STENDER

„So ungefähr 80 pro Seite sind’s, ist alles ziemlich eng gedruckt. Also zirka 3.600 in Friedrichshain. Und so um die 800 in Kreuzberg.“ Im ganzen Bezirk mehr als 4.200. Das Zählen fällt Rike Fischer schwer, denn was sie hier aufgelistet hat, sind die Deportierten und ermordeten NS-Opfer des heutigen Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Zwei dicke graue Aktenordnern im Büro des Museums Kreuzberg. Diese Listen braucht die 22-Jährige, wenn wieder eine Anfrage nach einem Stolperstein kommt.

Rike Fischer macht eine Ausbildung im Museum, und da unter der Woche die Zeit nicht reicht, arbeitet sie am Samstag die Listen durch. Dabei vermerkt sie immer, wo jemand schon einen Stolperstein gesetzt bekommen hat und wo nicht. Die Geschichten, die hinter den Namen stehen, kennt Fischer nicht. „Lieber erst mal alles einsortieren, hier die Euthanasieopfer, dort die Juden.“

Rike Fischer beantwortet auch Anfragen von Interessenten, die Stolpersteine legen lassen wollen. Schulen, Vereine, Privatpersonen, die herausfinden wollen, ob aus ihrem Haus Menschen deportiert worden sind. „Das ist schon etwas paradox, wenn man den Leuten schreibt, dass in ihrem Haus leider niemand deportiert wurde. Das ‚leider‘ schreibe ich dann lieber in Anführungszeichen, weil eigentlich ist es ja eher gut, wenn niemand umgekommen ist.“ Eine Mutter wollte für ihre 17-jährige Tochter einen Stein spenden, und hat nach einer 17-jährigen Deportierten gesucht. Ein Amerikaner hat geschrieben, er wolle Stolpersteine spenden, egal für wen, und dem Brief einen Scheck beigelegt.

Die 10 mal 10 Zentimeter messenden Steine kosten 95 Euro. Auf ihnen ist eine Messingplatte befestigt deren Inschrift mit: „Hier wohnte …“; beginnt, es folgen Geburtstag und Todestag. Ganz unten stehen Orte: Auschwitz, Ghetto Lodz, Theresienstadt und als Letztes, „tot“, „ermordet“ oder „verschollen“. Rike Fischer findet die Idee der Stolpersteine richtig und gut, weil sie dezentral ist und Eigeninitiative von den Leuten fordert. Das Gedenken geschieht dort, wo die Menschen gelebt haben.

Nein, sie habe sich lange Jahre, seit 1942/43, nicht mehr in die Barbarossastraße 53 getraut, sagt Vera Schmidt, geborene Friedländer. Erst nach dem Fall der Mauer 1990 machte sie sich wieder auf den Weg nach Schöneberg, zu dem Haus, in dem damals ihr Onkel Herbert, ihre Tante Else, deren zwei Kinder und ihr Großonkel im Erdgeschoss wohnten. Aber es sah alles anders aus, das Haus wurde im Krieg zerstört. Nur im Hof steht noch immer eine Birke. Von dem Baum aus konnte Vera Schmidt ungefähr rekonstruieren, wo die Grundmauern gestanden hatten, wo das Wohnzimmer war, wo ihr Großonkel immer saß und auf die Birken im Innenhof geschaut hatte. 1942 war Vera Schmidt 14 Jahre alt.

Sie half noch, die Möbel der Familie in der Wohnung ihrer Eltern zu verstauen, für bessere Zeiten nach dem Krieg. Dann wurde der Großonkel abgeholt, später Tante und Onkel mit ihren Kindern auf der Flucht in die Schweiz gefasst. Alle mussten auf Transporte „nach dem Osten“, Jahre danach hat sich Vera Schmidt durch die akribisch geführten Karteien des Konzentrationslagers Auschwitz gelesen, sie fand nur zwei Namen: den ihrer Tante Else und deren knapp 2-jähriger Tochter Bella. Was mit dem Rest der Familie geschah, kann sie nur mutmaßen.

Vera Schmidt schrieb ihre Geschichte auf. In „Man kann nicht eine halbe Jüdin sein“ erzählt sie, wie ihr Vater Ende 1944 wegen „Rassenschande“ ins Lager kam, weil er ihre Mutter, eine Jüdin, geheiratet hatte. Wie sie und ihre Mutter den Krieg wie durch ein Wunder in Berlin überlebten, wie sie in den Salamander-Werken als Zwangsarbeiterin arbeitete. Es fällt ihr bis heute nicht leicht, über damals zu reden: „Es gab einmal eine große Familie, sie ist jetzt nicht mehr auffindbar“, sagt sie. „Aber das habe ich ja alles in dem Buch aufgeschrieben. Lesen sie es dort.“

Vera Schmidt setzte ihrer ermordeten Familie ihr eigenes Denkmal und ließ vor dem Haus in der Barbarossastraße für jeden einen Stolperstein legen. Die Steine sind für sie die beste Form der Erinnerung, anders als das Holocaustdenkmal, das sie „abscheulich, fantasielos und kalt“ findet.

Jörg Holl gefällt an den Stolpersteinen vor allem der didaktische Effekt. Ihm ist die Arbeit mit den Schulen besonders wichtig, „damit die jungen Leute selbst herausfinden, was geschehen ist“. Holl ist 64 Jahre alt und ehrenamtlich im Verein Luisenstadt tätig, der sich mit Berliner Stadtgeschichte beschäftigt. Er arbeitet mit der Max-Planck-Oberschule zusammen. Schüler recherchieren in Projekten verschiedene Biografien von Deportierten und Ermordeten für die Stolpersteine. Der Verein hat bis heute mehr als 330 Stolpersteine verlegen lassen. Die Recherche der Daten ist oft schwierig. Hausnummern oder Straßennamen haben sich beim Wiederaufbau geändert, Holl forscht dann in alten Stadtplänen. Wenn es von einer Familie gar keine Überlebenden gibt, dienen erhaltene Vermögensakten des Oberfinanzpräsidenten, die heute im Landesarchiv Potsdam aufbewahrt werden, als Quellen. Da jeder jüdische Bürger, auch Kinder, vor der Deportation eine Vermögenserklärung abzugeben hatte, erhält man in den Akten nicht nur einen Einblick in den Wohnort, sondern auch in den gesamten Besitz der Deportierten. Meistens ist es nicht viel, was die Juden noch hatten: Die aufgezählten Gegenstände reichen vom Bettgestell bis zu Versicherungspapieren. Nach der Deportation wurden die Sachen oft noch aus der Wohnung heraus versteigert. Meistens ist der Anhang viel dicker als die eigentliche Akte: Noch Monate nach der Deportation schrieben sich Bewag und Oberfinanzpräsident Briefe über nicht mehr beglichene Rechnungen.

Über 55.000 Opfer gab es in Berlin. Aber Zahlen sind abstrakt. „Wer kann sich das vorstellen?“, fragt Jörg Holl. „Aber wenn man weiß, dass allein aus der Köpenicker Straße 868 Menschen ermordet wurden, dann wird es ein wenig fassbarer. So etwas prägt sich ein. Wie oft geht ein Durchschnittsbürger denn in Gedenkstätten? Aber auf den Bürgersteig vor einem Haus, da schaut jeder Vierte, Fünfte genauer hin.“

Vor etwa 18 Jahren trafen die Dillingers auf Fritz Greenwood, er kam aus den USA und trug einen großen Cowboyhut, „wie im Western“. Fritz Greenwood war auf den Spuren seiner Eltern unterwegs, die einmal in dem Haus am Schulenburgring 2 gelebt hatten – Arthur und Rosa Grunwald. Sie wurden am 17. März zuerst nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz deportiert. Ihr 16-jähriger Sohn Carl, der Bruder von Fritz Greenwood, versteckte sich noch 2 Monate lang beim Hausmeister, wurde aber von der Gestapo entdeckt, nach Buchenwald gebracht, wo er kurz vor der Befreiung des Lagers starb.

Joachim und Brigitte Dillinger wohnen seit 1971 in dem großen Altbau und haben sich schon immer mit der Geschichte ihres Hauses beschäftigt – schließlich wurde hier am 2. Mai 1945 die Kapitulation Berlins unterschrieben. Dillingers kannten Geschichten wie die, dass in der Wohnung unter ihnen ein Nazi gewohnt habe, dessen Frau immer den gesamten Flur mit Pfauenfedern putzte. Und dass ihr Mann, als die Soldaten der Roten Armee ins Haus kamen, ins oberste Stockwerk lief und sich in den Lichtschacht stürzte.

Von den Grunwalds wussten Dillingers bis zum Besuch von Fritz nichts, erst danach begannen sie sich zu informieren. Die Grunwalds lebten im 4. Stock in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit Kammer. Herr Grunwald hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und wurde schwer verwundet, gegen Ende arbeitete er als Portier beim Jüdischen Kulturbund. Kurz bevor sie das ereilte, was Brigitte Dillinger mit einer kleinen Pause als „dieses Schicksal“ bezeichnet.

Joachim Dillinger hat die Kopie eines Briefes in den Akten des Landesarchivs Potsdam gefunden, in dem der damalige Hausbesitzer an die Gestapo schreibt: „Am 8. März 43 wurde der Jude Arthur Grunwald aus der im obigen Hause innegehabten Wohnung abgeholt und die Wohnung vermietet. Ich bitte höflichst mir die Miete von 78,40 RM ab 1. April von ihnen anweisen zu lassen.“ – „Die Leute wussten Bescheid“, sagt Dillinger.

Heute ist das Haus eine Eigentümergemeinschaft, insgesamt 24 Parteien wohnen hier und fast alle haben sich dafür ausgesprochen, vor dem Haus drei Stolpersteine zu verlegen, um an die Grunwalds zu erinnern. „Wiedergutmachung ist das nicht, so was kann man nicht wiedergutmachen“, findet Joachim Dillinger. Nur drei Mieter meinten, es müsse auch „mal Schluss“ sein und außerdem könnte man auf den Steinen ausrutschen. Der Rest des Hauses aber hat sich zusammengetan und das Geld für die Verlegung gespendet. Unter der Gedenktafel, die an die Kapitulation erinnert, liegen jetzt die Stolpersteine.

Notwendig seien viele unterschiedliche Ansätze zum Gedenken, „auch die Spiegelwand in Steglitz oder das Holocaustmahnmal“, erklärt Joachim Dillinger. Seine Frau insistiert, „aber wir haben mit der Stolpersteinverlegung nicht so lange gebraucht wie die mit dem Mahnmal“.

DANIEL STENDER, 27, lebt als freier Autor in Berlin. Vor seinem Haus liegt kein Stolperstein