Vergiss es!

Vor 30 Jahren endete der Vietnamkrieg. Er löste in den USA einen Lernprozess aus – der aber offenbar nur eine Generation hielt. Inzwischen hat Amerika die Niederlage endgültig überschrieben – mit tätiger Mithilfe von Bin Laden

Am 30. April 1975 brach das Regime in Südvietnam zusammen. Dies war der Schlusspunkt des Krieges, den die USA gegen Nordvietnam verloren. Niederlagen machen, wenn sie nicht total sind, in der Regel klüger. Sie zwingen zur Selbstreflexion.

Die USA haben aus dem militärischen, moralischen und politischen Desaster, das der Vietnamkrieg für sie bedeutete, manches gelernt. Und wieder vergessen. Was die militärische Organisation angeht, haben sie etwas verändert. Die US-Armee, die sich in Vietnam vor allem aus 19-jährigen Unterschichtskids rekrutierte, zeigte Zerfallserscheinungen wie die zaristische Armee 1917. Es gab nicht nur barbarische Gewalt gegen Zivilisten, für die My Lai zur Chiffre wurde, sondern auch hunderte von Fällen, in denen GIs gezielt Offiziere töteten. 1973 wurde die Wehrpflicht abgeschafft. Damit wurde eine Grundlage geschaffen für jene schnelle Interventionsarmee, mit der die USA heute ihre Kriege führen. Das Ergebnis der Niederlage war eine Modernisierung.

Die US-Gesellschaft betrachtet Krieg gewöhnlich als etwas, das weit weg geschieht. Aber der Vietnamkrieg diffundierte in die USA. Er kam zurück in Form von hunderttausenden von kaputten Veteranen, als Protest auf der Straße, als existenzielle Krise des politischen Systems. Zwei Präsidenten sind, mehr oder weniger direkt, an dem Krieg gescheitert. Der 30. April 1975 hatte gezeigt, wie unkalkulierbar Kriege sind.

In der Reagan-Ära wurde Vietnam von einem verbrecherischen Krieg in eine amerikanische Tragödie umgedeutet – aber faktisch hatten auch die Falken die Lektion akzeptiert. So wurde die Außenpolitik der USA nach 1975 defensiver, vorsichtiger. Die USA bombardierten Libyen, überfielen Grenada, verminten die Häfen Nicaraguas – aber stets blieben die Konflikte begrenzt.

Das ist vorbei. Noch nicht lange, aber endgültig. 1991 verkündete George Bush senior, dass die Schmach von Vietnam in der irakischen Wüste getilgt worden sei. Auffällig parallel zum Golfkrieg, in dem US-Generäle wieder wie Patton-Imitate auftreten konnten, verschwanden auch die Vietnamfilme aus den Kinos. In den Achtzigern waren Vietnamfilme ein fast manisch anmutendes Genre, in dem westliche Ich-Helden immer wieder in den Dschungel mussten, um das Rätsel dieser Niederlage zu lösen. Selbst hypertrophe Körpermaschinen wie Rambo, die den Krieg nachträglich gewannen, war die Not eingeschrieben, etwas reparieren zu müssen.

2005 muss offenbar nichts mehr repariert werden. Die Metapher, dass der Irak ein neues Vietnam wird, hat ihre Evidenz verloren. Vietnam ist nichts mehr, das unbedingt vermieden werden muss. Niemand hat das deutlicher gemacht als Bush und Powell, als sie den Irakkrieg mit einer Fiktion – Saddams Massenvernichtungswaffen – begründeten. Dies war eine unbewusste Reinszenierung des Vietnamdesasters, das 1964 mit einem fiktiven Angriff eines nordvietnamesischen Kriegsschiffs begonnen hatte. Die Analogie lag auf der Hand – aber sie schreckte nicht mehr ab.

Der 30. April 1975 ist endgültig überschrieben von 9/11, von einem Krieg, der den USA noch dichter auf den Leib gerückt ist als Vietnam. Das Bewusstsein, Opfer zu sein, verdrängt die Erinnerung an die eigene Täterschaft – dieser Mechanismus ist simpel und universell gültig.

Was wird erinnert, was ausgelöscht? Der Vietnamkrieg war Auslöser eines Lernprozesses – aber offenbar nur mit der Reichweite einer Generation. Die US-Politik glaubt wieder stets das Gute zu verkörpern und daher den Rest der Welt mit Demokratie, Freiheit und Kapitalismus beglücken zu dürfen. Das bleibende Resultat des Vietnamkriegs für die USA scheint die Abschaffung der Wehrpflicht zu sein. Was für eine miese Pointe.

STEFAN REINECKE