: Der Preis der Arbeit
In den ärmeren Ländern werden Frauen noch mehr ausgebeutet als in Europa. Ihre Rechte gegenüber den multinationalen Konzernen müssen dringend gestärkt werden
Vor kurzem stürzte die Spectrum-Sweater-Fabrik in Bangladesch zusammen. 73 Frauen starben, eingeklemmt in den Trümmern. Arbeitsschutzregeln sollten eigentlich derart tragische Unfälle am Arbeitsplatz verhüten. Aber mächtige, profitgierige Konzerne lassen Verstöße gegen Arbeitsschutzvorschriften zu, die zu Katastrophen wie jetzt in Bangladesch führen können. Und die Regierungen greifen nicht ein, um Investitionen nicht zu gefährden.
Millionen von Arbeiterinnen und Arbeiter demonstrieren am 1. Mai für Solidarität und die Chancen für ein besseres Leben. Leider sind jedoch Beschäftigung und Arbeitsbedingungen in vielen so minderwertig und die Löhne so niedrig, dass Arbeitsplätze faktisch zur Armut beitragen. In Ländern wie Bangladesch, Indonesien, Honduras, Marokko und selbst Großbritannien reicht es nicht, einen Job zu haben, um sich und seine Familie aus der Armut zu befreien. Dies gilt besonders für Frauen. Viel zu oft bleibt Arbeiterinnen gar nichts anderes übrig, als unmenschlich lange Arbeitszeiten und gefährliche Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen.
Das weist auf deutliche Fehler in der Regierungspolitik vieler Länder hin. Manche Regierungen setzen auf Flexibilisierung des Arbeitsmarkts zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, Schaffung von Arbeitsplätzen und Armutsbekämpfung, wie es üblicherweise auch der Internationale Währungsfonds propagiert. Dadurch aber entstehen nur neue Probleme: unsichere Jobs mit Hungerlöhnen und geringen Sozialleistungen.
Es sind meist die Frauen, die solche Arbeitsplätze haben. In Jobs, wo sie vom Arbeitgeber oder vom Staat oft nicht mal formell als „Arbeiterinnen“ anerkannt sind, können sie keine normalen Arbeitnehmerrechte in Anspruch nehmen. Solche Arbeitsplätze, durch Flexibilität und Diskriminierung gekennzeichnet, stellen Frauen vor eine böse Wahl: entweder ein Job um jeden Preis oder überhaupt kein Einkommen. So werden die Frauen gezwungen, immer härter, schneller und länger zu arbeiten – mit geringen Arbeitsschutz-, Mutterschutz- und Gewerkschaftsrechten. Dies führt weder zu einem besseren Leben für Frauen noch zum Abbau von Armut.
Zur gleichen Zeit bauen die Regierungen unter dem Druck von internationalen Investoren Arbeitnehmerrechte ab. In Marokko wurde ein neues Arbeitsgesetz erlassen, mit formeller Gleichstellung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz, Beschränkungen der wöchentlichen Arbeitszeit und Mutterschutz. Aber der politische Wille zur Durchsetzung dieser Bestimmungen fehlt. Es gibt kaum entsprechende Kontrollen an den Arbeitsplätzen, und Übertretungen können mangels Kapazität bei den Gerichten kaum verfolgt und abgeurteilt werden. Daher demonstrieren Gewerkschaften und Unterstützer am 1. Mai in Marokko für eine schärfere Kontrolle der Arbeitsgesetze.
In Indonesien wurden tausende fest Beschäftigte, meist Frauen, entlassen und durch billigere kurzfristige Kontraktarbeiterinnen ersetzt, gemäß der neuen „flexiblen“ Arbeitsmarktpolitik der Regierung. Die Mindestlöhne, die ohnehin den Lebensunterhalt nicht sichern können, sind zusätzlich dadurch entwertet worden, dass die Brennstoffpreise infolge von IWF-Auflagen um 30 Prozent gestiegen sind. Deshalb marschieren am 1. Mai indonesische Arbeiter in die Stadt Tangerang und fordern von der Regierung die Sicherung der Arbeitsplätze und eine Anhebung des Mindestlohns.
In Nicaragua entzog die Regierung kürzlich den Arbeitsinspektoren die Befugnis zur Erteilung von Geldstrafen an Unternehmer, die gegen Arbeitsbestimmungen verstoßen. Viele zentralamerikanische Produktionszonen haben einen Akkordzwang mit Mindestlöhnen verknüpft, wodurch die Arbeitnehmer gar nicht anders können, als auf Mittagspausen und den Gang zu Toilette zu verzichten und massenhaft unbezahlte Überstunden zu leisten.
Sogar in Großbritannien erfolgt die Vergütung von Heimarbeit nur nach Stückzahl, und in der Regel werden der gesetzliche Mindestlohn, Urlaub und die Bezahlung von Überstunden verweigert. Etwa 90 Prozent der Heimarbeit wird von Frauen geleistet, und die Hälfte entstammt ethnischen Minderheiten.
Viele Frauen in Bangladesch hatten Arbeit in der Bekleidungsindustrie gefunden, aber dies war nur von kurzer Dauer. Gegenwärtig entlassen die Arbeitgeber aufgrund aktueller umwälzender Veränderungen auf dem Weltmarkt ihre Beschäftigten ohne Auszahlung der letzten Gehälter, Umschulungen oder Abfindungen. So berichtet Reshima aus Dhaka, die eine neunköpfige Familie zu ernähren hat: „Ich verlor meine Arbeit einfach so, ohne Kündigungsfrist. Die Fabrik hatte keine Aufträge mehr. Jeden Tag suche ich nach neuer Arbeit.“
In der Stadt Cortes in Honduras entlassen einige in der Exportzone angesiedelte Betriebe regelmäßig ihre Arbeitskräfte und stellen sie anschließend wieder ein, um die gesetzlich festgelegten Zusatzleistungen für langfristig Beschäftigte zu umgehen. Die gleichen Arbeitgeber verzichten nach etwa fünf Jahren endgültig auf ihre Arbeitskräfte, weil dann aufgrund von Verschleißerscheinungen durch Erschöpfung und Berufskrankheiten deren Produktivität nachlässt.
In diesem international für den Kampf gegen Armut so wichtigen Jahr 2005 sollten wir bei den Kampagnen und Aktion am 1. Mai stets bedenken, wie gefährlich es ist, wenn Arbeitsplätze um jeden Preis geschaffen werden. Wir müssen darauf dringen, dass globale Unternehmen, neben ihren öffentlichen Bekenntnissen zu ethischem Verhalten und der Einhaltung von Sozialstandards, tatsächlich auch ihre Einkaufspraktiken in armen Ländern ändern: Ihre Zulieferunternehmen dürfen nicht zunehmend Arbeitsschutz- oder Arbeitssicherheitsbestimmungen und weitere Arbeitnehmerrechte unterlaufen. Und die Regierungen der armen Länder müssen ebenfalls endlich einsehen, dass sie die Rechte der Arbeitnehmer stärken müssen, die an unsicheren und gefährlichen Arbeitsplätzen ihr Geld verdienen.
Die Achtung von Arbeitnehmerrechten und die Unterstützung von Arbeitsmarktpolitiken, die auch das Wohlergehen der Beschäftigten berücksichtigen, könnten in armen Ländern entscheidend und nachhaltig zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, insbesondere der Arbeitnehmerinnen, beitragen. Deshalb rufen zahlreiche Entwicklungsorganisationen dazu auf, dass insbesondere Frauen ihren gerechten Anteil an den Früchten des Welthandels erhalten. Sie müssen erstens bei der Wahrnehmung ihrer Arbeitnehmerrechte stärker unterstützt werden. Zweitens müssen private Initiativen wie die „Codes of Conduct“ globaler Unternehmen an internationalen Arbeitsstandards ausgerichtet werden. Und drittens müssen die Lasten der unbezahlten Arbeit für die Familie fairer zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Arbeitgebern und Staat aufgeteilt werden. PAUL BENDIX