: Tanger von außen und innen
Hippen empfiehlt: In „Tangerine“ von Irene von Alberti wird Marokko aus den konträren Blickwinkeln deutscher Touristen und einer jungen Einheimischen gesehen
von Wilfried Hippen
Für die einen ist es ein Traumland – die anderen wollen es mit allen Mitteln verlassen. Während Reisende und Künstler aus dem Westen immer noch nach Marokko fahren, um sich dort von der orientalischen Exotik verführen und inspirieren zu lassen, würden viele Marokkaner sofort das nasskalte Berlin gegen das sonnenverbrannte Tanger eintauschen. Was die einen sich erträumen ist für die anderen Alltag, und bei diesen völlig konträren Erwartungen ist es unumgänglich, dass man einander missversteht. Dies ist der Grundkonflikt in dem ersten Spielfilm von Irene Alberti, die von der Kamera zur Regie gekommen ist und mit „Paul Bowles Halbmond“ schon einen anderen, sehr schön fotografierten Film in Marokko mitproduziert hat.„Tangerine“ ist im Grunde eine einzige große Parallelmontage. Zum einen werden Szenen aus einer Wohngemeinschaft von Frauen in Tanger gezeigt, die sich mit Tanz und Prostitution ihren Lebensunterhalt verdienen und mit einer starken Solidarität zusammenhalten. Diese beweisen sie auch gegenüber der jungen Amira, die vor der Haustür von ihren männlichen Verwandten zusammengeschlagen wird, weil sie sich weigert, den Mann zu heiraten, an den ihre Familie sie verkauft hat. Der Film erzählt nun auf einer Ebene davon, wie Amira bei den Frauen einzieht und ihre neu entdeckte Freiheit auskostet, indem sie sich modern und freizügig anzieht und nachts in die Disko tanzen geht. Von diesen sehr authentisch wirkenden und mit vielen Laiendarstellern aufgenommene Sequenzen wird immer wieder zu einer Gruppe von jungen deutschen Musikern geschnitten, die in Marokko nach den alten und zugleich für sie so neuen Klängen Nordafrikas suchen, mit denen sie zuhause in Berlin die Szene beeindrucken können.
Sie zahlen diese Pilgerfahrt, bei der viel von „Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll“ die Rede ist, ohne viel Risiko mit der Kreditkarte. Das ist bei Amira ganz anders, und nachdem sie und das deutsche Paar sich nachts in einem Tanzclub treffen und sie jeweils voneinander fasziniert sind, beginnt zwischen ihnen eine Freundschaft, bei der die Deutschen und die junge Marokkanerin einander teilweise völlig falsch einschätzten, sodass schließlich eine hochdramatische Situation entsteht.
Irene von Alberti erzählt sehr atmosphärisch, und so wirken beide Ebenen des Films glaubwürdig und authentisch. Marokko wird sowohl mit dem Blick des Touristen wie auch mit dem der Einheimischen gesehen, und es spricht für die Regiearbeit und die Kameraführung, dass beides in einer feinen Balance gehalten werden kann. Aber natürlich war die Innensicht viel schwieriger zu meistern als der Blick von außen, der ja im Grunde den des deutschen Filmteams spiegelt. Wie brisant diese Arbeitssituation für die marokkanischen Mitwirkenden war, wird an dem Detail deutlich, dass sich im ganzen Land keine Darstellerin für die Protagonistin Amira fand, weil diese sich zu rebellisch und aufreizend gebärdet. Nun wird sie von der in Paris lebenden Sabrina Ouazani verkörpert.
Leider verspielt die auf der Bildebene so begabte Irene von Alberti vieles beim Drehbuch. Dieses ist unnötig kompliziert gebaut, denn die Parallelhandlung wird zu einer riesigen Rückblende, da in einer erzählerischen Klammer zwei der beteiligten Frauen sich ein paar Monate später über das Geschehene unterhalten. Schließlich drückt sich die Regisseurin um einen dramaturgisch stimmigen Schluss. Von Alberti wollte wohl das Ende mit Schrecken, das die Klischees über muslimische Gesellschaften bestätigt hätte, vermeiden, aber so banal kann man die Geschichte nicht enden lassen.