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Archiv-Artikel

Tausende kreuzen ihn ohne Aufhebens

ERINNERUNGSKULTUR Großstadt beschreiben, selbst in ihren bescheidensten Ecken, war eine Gabe des Soziologen Siegfried Kracauer. Jetzt soll der Platz, auf den er einst blickte, nach ihm und seiner Frau benannt werden

Es besteht die Gefahr, dass der neue Name mit der Krakauer Wurst in Verbindung gebracht wird

VON UTA GORIDIS

Auf ihrer Sitzung vom 9. Juli 2009 beschloss die Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf, den Holtzendorffplatz in Kracauerplatz umzubenennen. Auf dem neuen Namenschild wird man lesen: Kracauerplatz, „Siegfried Kracauer (1889–1966), Soziologe und Filmhistoriker, Elisabeth (Lili) Kracauer (1893–1972), Bibliothekarin“. Der Vorschlag zur Umbenennung kam von der Charlottenburger Bürgerinitiative Stuttgarter Platz, der BI Stutti, in der sich zwei sehr aktive Kracauer Fans, Rolf Sanden und Joachim Neu, für die Umbenennung engagiert hatten.

Siegfried Kracauer hatte im April 1930 die Berliner Redaktion der Frankfurter Zeitung übernommen und eine Wohnung in der Sybelstraße 35 bezogen, einem Eckhaus mit Blick auf den Holtzendorffplatz. Die Aussicht von der vierten Etage beschreibt er folgendermaßen: „Mitten in einem großstädtischen Wohnviertel gelegen und Treffpunkt mehrerer breiter Straßen, entzieht sich der kleine Platz so sehr der öffentlichen Aufmerksamkeit, dass kaum jemand auch nur seinen Namen kennt. Vielleicht hat diese märchenhafte Geschicklichkeit ihren Grund in der Tatsache, dass er vor allem dem Durchgangsverkehr dient. Tausende kreuzen ihn täglich im Omnibus oder in der Tram, aber gerade weil sie ihn so ohne jedes Aufheben überqueren, versäumen sie es, seiner zu achten. So genießt er das unbeschreibliche Glück, gewissermaßen inkognito im Trubel leben zu dürfen, und obwohl er sich nach allen Seiten hin auftut, ist es doch, als er sei er von dichten Nebeln umlagert.“

Inzwischen bietet der nach Franz von Holtzendorff (1829–1889), einem Strafrechtler aus dem märkischen Uradel, benannte Platz ein ganz anderes Bild: Verschwunden sind die Busse, die Trams, die Tausende, die ihn kreuzten. Geblieben sind paar Fliederbüsche und ein paar Bänke, auf denen gewöhnlich nicht Ansässige sitzen, eine Bierflasche neben sich. Die Anwohner selbst benutzen ihn lieber diskret und en passant als Hundeklo. Ihn als „unbedeutenden Wurmfortsatz“ zu bezeichnen wäre jedoch überspitzt und nicht gerade freundlich.

Charlottenburg war schon immer eine Hochburg der großbürgerlichen Boheme, und daran knüpft die Umbenennung wieder an. In unserer Wohnung in der Sybelstraße 35, die nicht auf den Holtzendorffplatz blickt, zeugt davon noch der Kasten mit den Klingelknöpfen. Diese Knöpfe wurden betätigt, wenn man die Hilfe des Personals benötigte. Während die Herrschaften den mit Mahagoniholz verkleideten und mit Kristallspiegeln ausgestatteten Aufzug benutzten, kam das Personal über den Hinteraufgang in die Wohnung und wartete diskret darauf, gerufen zu werden.

Wie in den meisten Häusern der Sybelstraße befindet sich auf der Nordseite von Kracauers ehemaligem Wohnhaus ein Maleratelier von schwindelerregender Höhe. Damals wie heute setzen sich die „Bobos“ der Sybelstraße aus Malern, Schauspielern, Journalisten etc. zusammen.

Kracauers Berliner Zwischenspiel war nur von kurzer Dauer. Nach dem Reichstagsbrand konnte sich der jüdische Feuilletonchef nicht mehr auf seinem Posten behaupten und verließ wie viele andere jüdische Intellektuelle die Stadt, um in Paris einen Neuanfang zu versuchen. Ebenfalls nach Paris emigrierte der mit ihm befreundete Walter Benjamin, nach dem der Platz am anderen Ende der Sybelstraße benannt ist. Im Gegensatz zum Holtzendorffplatz ist er ein wahres Schmuckstück mit Springbrunnen und Kolonnaden, auch wenn nicht alle mit der Gestaltung durch den Architekten Hans Kollhoff einverstanden sind. (Angeblich soll er einen faschistischen Touch haben. Warum eigentlich? Weil die Fassaden, einer strikten preußischen Tradition folgend, keine Balkone zum Platz hin aufweisen?). Dass Benjamin den sehr viel schöneren und größeren Platz bekommen hat, erklärt sich ganz einfach aus der Tatsache, dass er Berliner war und viele Jahre in der Stadt gelebt und gearbeitet hatte.

Franz von Holtzendorff soll nach der Umbenennung des Platzes nicht völlig aus der Stadtlandschaft verschwinden, denn die Holtzendorffstraße wird weiterhin seinen Namen tragen. Dass er Kracauer Platz machen soll, wurde von allen politischen Fraktionen der Bezirksverordnentenversammlung akzeptiert.

Doch Aufklärungsarbeit tut not: Durch eine Zettelaktion in Briefkästen und an Bäumen sollen die meist ahnungslosen Anwohner erfahren, wer eigentlich dieser Kracauer ist. Dass er nicht, wie einer im Aufzug vermutete, vor ein paar Jahren nach Spandau zog, weil „den alten Leuten hier die Miete zu teuer wird“. Außerdem besteht die Gefahr, dass der neue Name mit der Stadt Krakau oder sogar mit der Krakauer Wurst in Verbindung gebracht wird. Denn auf Kracauers Vorname wurde absichtlich verzichtet, um auch dessen Frau Lili (als Quotenfrau) mit einzubeziehen. Ute Becker, ein bekanntes Mitglied der Bürgerinitiative, findet diese Lösung deshalb „einfach nur peinlich“.