: Verbannt nach Celle
BERLINALE Ein Blick auf die Berlinale-Filme, deren Spiel- oder Handlungsorte in Norddeutschland liegen, oder die dort gefördert wurden. Drehorte waren die stürmische Ostseeküste, Sylt im Winter und besonders hässliche Stadtlandschaften in Niedersachsen
VON WILFRIED HIPPEN
Nina Hoss fährt mit ihrem Fahrrad durch die stürmische Küstenlandschaft. Dies ist eines der stärksten Bilder in Christian Petzolds neuen Film „Barbara“, der gerade auf der Berlinale mit dem Bären für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Gedreht wurde diese Einstellung wie die meisten Außenaufnahmen des Films in Graal-Müritz an der Ostseeküste von Mecklenburg-Vorpommern. Dreh- und Handlungsort sind dabei so gut wie deckungsgleich, denn der Film ist im Sommer 1980 in der Provinz der DDR angesiedelt.
An attraktiven Drehorten ist das Bundesland reich, in letzter Zeit wurden dort auch der Kinderfilm „Fünf Freunde“ und das Jugenddrama „Die Kriegerin“ gedreht, und damit wurde natürlich auch ausgiebig auf dem Berlinale-Empfang angegeben. Unter dem Motto „Kulisse mit Klasse – gedreht in MV“ zählte der Ministerpräsident Erwin Sellering dort höchstpersönlich die vielen Filme und ihre Drehorte auf. Vor einigen Jahren demonstrierte die Filmförderung des Landes plastisch, wie gering ihre Mittel sind, indem sie die Gäste auf dem Empfang nur mit Broilern (auf westdeutsch Brathähnchen), Kartoffelsalat und Rote Grütze beköstigte. In diesem Jahr reichte es dagegen nicht nur für vollere Teller, sondern sogar noch für die Förderung eines Filmes, der in der Programmschiene der Berlinale „Panorama Dokumente“ gezeigt wurde. Die Dokumentation „Unter Männern – Schwul in der DDR“ von Markus Stein und Ringo Rösener zeigt im Rahmen von 13 Männerporträts, wie Homosexualität im „real existierenden Sozialismus“ ausgelebt werden konnte. Die Filmemacher nähern sich ihren Protagonisten mit viel Einfühlungsvermögen und Respekt. Überraschend dabei ist, dass die meisten der erzählten Lebensläufe in der Bundesrepublik grundsätzlich wohl kaum anders verlaufen wären.
In Hannover, Peine und Wolfsburg gedreht und mit Mitteln der „Nord-Media“ gefördert ist „Die Vermissten“ der einzige Film aus Niedersachsen im offiziellen Programm der Berlinale. Die Locations-Scouts müssen für diese Produktion durch die Großstädte des Bundeslands gezogen sein, um jeweils die hässlichsten Örtlichkeiten zu finden. Diese öden Stadtlandschaften bilden die Kulissen für diese Geschichte darüber, dass die Kinder plötzlich verschwinden, sich völlig aus dem Leben der Erwachsenen zurückziehen und eine stille, eher lethargische als rebellische Revolte auslösen. Die Erwachsenen formieren sich bald zu einer gegnerischen Streitmacht, Polizei und Bürgerwehren machen Jagd auf alle frei umher laufenden Kinder und bald herrscht eine bedrückende Endzeitstimmung im Lande. Diese moderne Version vom „Rattenfänger“ ohne den Rattenfänger ist das Spielfilmdebüt von Jan Speckenbach und wurde in der „Perspektive Deutsches Kino“ vorgestellt.
Leider hat dieser statt eines Drehbuchs nur sein Konzept verfilmt. Auf Dramaturgie, Motivation oder Ausformung der Figuren verzichtet er fast gänzlich und konzentriert sich stattdessen auf die Ausmalung von einzelnen Tableaux. Die einzelnen Szenen führen nicht die Geschichte weiter (André M. Hennike spielt einen Vater, der sich auf die Suche nach seiner vermissten Tochter macht), sondern zeigen wie im Zeitraffer die immer extremere Zuspitzung der Krise. Dadurch entsteht ein irritierender Riss zwischen der erzählten Geschichte (in einer Reihe von Tagen) und den Zuständen, unter denen sie angeblich handeln (deren Entwicklung Wochen, wenn nicht Monate dauern müsste). Dadurch zieht sich der Film seine eigene Realitätsebene unter den Füssen weg, und deshalb wird auch die phantastische Ebene uninteressant, weil es letztlich kein Gewicht hat, was in diesem Film passiert.
Ebenfalls in der „Perspektive Deutsches Kino“ wurde „Westerland“ gezeigt, der erste Film des Theater- und Hörspielautoren Tim Staffel, der hier selber seinen Roman „Jesús und Muhammed“ adaptierte. Gedreht wurde im Winter auf Sylt, und dieses eisige, stürmische, verloren wirkende Urlaubsparadies außerhalb der Saison ist solch eine faszinierende Kulisse, dass der Film alleine schon durch seine Bilder funktioniert. Aber Staffel kann (natürlich) auch erzählen. Die seltsame Liebesgeschichte von Cem, der beim Ordnungsamt jobbt und sein Leben im Griff hat und Jesus, der selbstzerstörerisch alles versucht, um zu scheitern, wird hier mit einer poetischen Radikalität ins Extreme getrieben. Ein verstörender, faszinierender und dabei erstaunlich schön fotografierter Film, der von der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein mitfinanziert wurde.
Diese förderte auch die beiden Wettbewerbsfilme „Gnade“, den Matthias Glasner in Norwegen drehte sowie den in Portugal und Afrika spielenden „Tabu“ von Miguel Gomes, der mit dem Alfred-Bauer Preis ausgezeichnet wurde. Da ist es fast schon erwähnenswert, dass der dänische Wettbewerbsfilm „En kongelig Affaere“ ganz ohne norddeutsche Förderung finanziert wurde. Dabei wäre diese hier durchaus sinnig, ja fast ironisch gewesen, denn zum Teil spielt „Eine königliche Affäre“ in Norddeutschland.
Die Geschichte vom Leibarzt des dänischen Königs Christian VII (dessen Darsteller Rasmus Heisterberg den Bären für den besten Darsteller erhielt), der von 1768 an eine kurze, beispiellose Modernisierung des dänischen Staates bewirkte, wird hier als kluges, sehr spannend erzähltes (und mit einem zweiten Bären für das Drehbuch belohntes) Historiendrama inszeniert. Der Film beginnt seltsamerweise in Altona, das damals zum dänischen Königreich gehörte. Am Schluss des Films wird dann die Königin und Geliebte des Leibarztes zur Verbannung ausgerechnet nach Celle geschickt. Niedersachsen als das Sibirien Dänemarks? Kein Wunder, dass es für so etwas hier keine Förderung gab.