: Umzugskisten bleiben im Keller
Senat beschließt Miet-Richtwerte für arbeitslose BerlinerInnen. Bevor jemand aus der Wohnung muss, gelten Übergangsfristen von bis zu zwei Jahren. Kritik vom Mieterverein
Der Senat hat entschieden, was die Wohnung eines Arbeitslosen in Berlin künftig kosten darf. Für eine Familie mit zwei Kindern, also einen 4-Personen-Haushalt, sind das zum Beispiel 619 Euro Brutto-Warmmiete (siehe Kasten). Bei der Frage, ob eine Wohnung für einen Arbeitslosengeld-II-Empfänger (Alg II) angemessen ist oder nicht, orientiert sich der Senat also an der Miete. Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) wollte ursprünglich den Landeszuschuss zu den Wohnkosten an den Quadratmetern bemessen.
Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner wertete den Kompromiss gestern als „transparente und sozial gerechte Lösung.“ Die 490.000 Alg-II-Empfänger der Stadt hätten jetzt Rechtssicherheit. „Umzugswellen und eine soziale Aufspaltung unserer Stadt werden ausgeschlossen.“
Der Berliner Mieterverein, der in der Vergangenheit bis zu 30.000 Zwangsumzüge befürchtet hatte, kritisierte den Senatsentscheid. „Die Mietbelastung liegt in vielen Fällen wesentlich höher. Zwangsumzüge sind unausweichlich“, sagte Hauptgeschäftsführer Hartmann Vetter. Sein Vorwurf: Der Senat handelt blind. Obwohl die Daten von Alg-II-Empfängern zu Wohnkosten seit Januar vorlägen, habe es keine Auswertung gegeben. Vetter fürchtet jetzt die Destabilisierung von Kiezen, weil Leute in billige Gegenden ausweichen müssen.
Gegen diese Prognose wehrt sich Knake-Werner. Denn bevor die Staffelung in Kraft tritt, sind Übergangsfristen vereinbart. Wer Arbeitslosengeld II bezieht, bekommt zunächst ein Jahr lang die Wohnung samt Heizkosten bezahlt. Dann fordert das Amt den Betroffenen auf, die Mietkosten innerhalb von sechs Monaten zu verringern – etwa durch Untervermietung oder Umzug. In Ausnahmefällen kann die Frist auf zwölf Monate verlängert werden. Ein Umzug steht also frühestens nach eineinhalb Jahren an. „So haben die Menschen Zeit, sich um neue Jobs zu kümmern“, so Knake-Werner.
Die Behörde prüft zusätzlich, ob der Wechsel wirtschaftlich ist, will heißen: Die Kosten für den Umzug müssen niedriger liegen als die Differenz zwischen tatsächlicher Miete und Richtwert, die in zwei Jahren aufläuft. In jedem Fall in der alten Wohnung bleiben schwer kranke und behinderte Menschen, allein Erziehende mit vielen Kindern und BerlinerInnen über 60. In „begründeten Einzelfällen“ will Rot-Rot laut Knake-Werner auf die Miet-Richtwerte bis zu zehn Prozent drauflegen – zum Beispiel bei Schwangeren oder Alteingesessenen, die über 15 Jahre in ihrer Wohnung leben.
Mit den beschlossenen Mieten stehen Alg-II-Empfängern 80 Prozent des Berliner Wohnungsmarktes zur Verfügung, hat Sozialsenatorin Knake-Werner ausgerechnet – und beruft sich bei der Kalkulation auf den Mietspiegel. „Das beruht doch auf reiner Fiktion“, sagt Vetter dazu. Jede Miete könne vertraglich vereinbart werden, der Mietspiegel gelte in Bezirken wie Prenzlauer Berg oder Mitte de facto nicht.
Die so genannte „Ausführungsvorschrift Wohnen“ tritt ab 1. Juli in Kraft. Sie war nötig geworden, weil das Land durch die Arbeitsmarktreform Hartz IV für die Wohnkosten von Langzeitarbeitslosen zuständig ist.
ULRICH SCHULTE