: Auf nach Gotha
DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER
Wenn man den Kapitalismus kritisiert, muss man sich genau überlegen, was man tut. Erstens sollte man sich über den Zeitpunkt der Kritik Gedanken machen. Die 68er kritisierten den Kapitalismus zu einer Zeit, als kein normaler Mensch auf den Gedanken gekommen wäre, er könnte etwas Böses sein. Zweitens ist es sinnvoll, zu wissen, was man mit seiner Kritik erreichen will. Schon die Sozialisten des 19. Jahrhunderts waren in dieser Frage uneins. Drittens muss man sich über die zu erwartenden Folgen im Klaren sein, viertens darüber, ob das erwünschte Ziel und die mutmaßlichen Konsequenzen in einem rational vertretbaren Verhältnis zueinander stehen. Schließlich ist es angebracht, die Wortwahl nicht dem Zufall zu überlassen. Kapitalismuskritik will also gelernt sein. Die Welt ist komplex geworden; es bringt nichts, sich einfach auf die Straße zu stellen und den Leuten zu erklären, dass der Kapitalismus kritisierenswert sei.
Was den Zeitpunkt betrifft, hat Müntefering mit Bedacht die Amtseinführung des neuen Papstes abgewartet. Beseelt vom dreiwöchigen Medienhype um den Vatikan war alle Welt plötzlich fromm geworden. Müntefering konnte sich ausrechnen, dass der nicht enden wollende, unverhältnismäßig massive Aufmarsch rotgewandeter Kardinäle im Fernsehen für ihn nützlich sein könne und seine Botschaft in den Bereich der letzten Dinge katapultieren werde. Prompt wurde der Sozialdemokrat in einigen Talkshows zu einem Heiligen, ja zu einem Replikanten Jesu Christi promoviert. Das Timing funktionierte und belegte Münteferings dialektisches Verständnis von der Beziehung zwischen Basis und Überbau.
Was der SPD-Vorsitzende jedoch nicht bedachte, war die zeitliche Nähe zu den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Das verschaffte ihm Feinde. Wer einen Blick in den Kalender warf, die Umfragewerte im Kopf hatte und obendrein Atheist und somit für die letzten Dinge unempfänglich war, schöpfte den bösen Verdacht, hier wolle jemand nach der bewährten sozialdemokratischen Masche kurz vor den Wahlen das Steuer noch einmal herumreißen.
Diese Vermutung ist völlig unbegründet. Die SPD rutschte auch bei der letzten Umfrage weiter ab, und auf einer Maikundgebung wurde Münte von aufgebrachten Arbeitern sogar mit Eiern beworfen: negative Folgen, die der Kapitalismuskritiker offenbar billigend in Kauf genommen hatte. Münte muss schließlich am besten wissen, wie weit die Sozialdemokratie die Arbeiterklasse ideologisch heruntergewirtschaftet hat. Und auch Peer Steinbrück weiß jetzt genau, warum er die NRW-Wahl unweigerlich verlieren wird. Die Unterstellung, Müntefering gehe es um Wahlpropaganda, ist also ziemlich weit hergeholt.
Über seine Ziele und Motive lässt sich nur spekulieren. Will er Reformen oder will er Revolution? Will er mit Bebel konkurrieren oder betreibt er, wie einst Lenin, die Bolschewisierung der Partei? Gut möglich, dass er sich im Hinblick auf die langen Oppositionsjahre, die der SPD bevorstehen, als programmatisches Talent zu empfehlen gedenkt. Dann wäre seine Kapitalismuskritik als Aufforderung an seine Partei zu verstehen, mit sauerländischem Ernst das Grundsatzprogramm zu überarbeiten und es irgendwo in der grauen Geschichte der Klassenkämpfe zwischen den Parteitagen von Gotha und Bad Godesberg neu zu entwerfen.
Auf ihrem Vereinigungskongress in Gotha beschloss die SPD 1875, mit allen gesetzlichen Mitteln die „Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit“ anzustreben, die „Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt“ und die „Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit“. Danach gingen ein paar unruhige Jahrzehnte ins Land. Das Programm von Bad Godesberg ersetzte dann 1959 die Forderung nach Planwirtschaft durch ein allgemeines Bekenntnis zum privaten Eigentum an Produktionsmitteln und zur Logik des Markts. Die Partei war dort angekommen, wo sie die Gegenwart vermutete, und stürmte nun, mit Ollenhauer voran, in eine lichte, kapitalismusfreundliche Zukunft.
Der Abschaffung der Lohnarbeit hat sich die SPD dank ihrer Agenda 2010 inzwischen weitgehend angenähert. Auch die Entfesselung der Marktkräfte lässt unter Schröder und Clement nichts mehr zu wünschen übrig. Irgendwo muss aber unterwegs die Beseitigung der Ungleichheit stecken geblieben sein. Nun denkt Müntefering darüber nach, wie man das eherne Lohngesetz doch wieder einführen und das private Eigentum so weit fesseln kann, dass unter dem Strich ein bisschen mehr Gleichheit zwischen Heuschrecken und Hartz-IV-Empfängern herauskommt.
Irgendwie ahnt er, dass er mit diesem Nachdenken das ganze System in Frage stellt, dass er näher bei Gotha als bei Bad Godesberg ist und dass man eigentlich wieder vom Kapitalismus sprechen muss. Er gibt sich einen Ruck, formt das lange gemiedene Wort, bis es ihm geschmeidig von der Zunge rollt, immer mutiger redet er sich in gerechten Zorn, und plötzlich wird eine kapitale Kapitalistenschelte daraus. Genau genommen hat seine Kapitalismuskritik vormarxistische, ja sogar vorkapitalistische Züge. Seine Heuschrecken-Rhetorik gemahnt an jene Zeiten, als der Augustiner-Barfüßer Abraham a Sancta Clara durch die Lande zog und in seinen Bußpredigten die Sündhaftigkeit der feudalen Blutsauger des 17. Jahrhunderts geißelte. So erklärt sich die Dynamik seiner Rede, ihr archaisches Feuer und ihr rebellischer Schwung.
Vielleicht müht sich Müntefering, die sozialdemokratische Programmatik Schritt für Schritt auf das Niveau der katholischen Soziallehre zu heben. Der überraschende Beifall aus der CDU würde diese These bestätigen. Da ihm nicht nur der Arbeitnehmerflügel, nicht nur die linksradikale Sturmtruppe Blüm, Geißler und Seehofer, sondern auch diverse Parlamentarier zugestimmt haben, könnte langfristig eine große Koalition ganz neuen Zuschnitts zusammenwachsen. Eine antikapitalistische Koalition der beiden großen Volksparteien, die, nachdem sie mehr oder weniger gemeinsam den Kapitalismus der Bundesrepublik aufgebaut haben, ihn nun wieder abschaffen, da er eh nix bringt.
Münteferings hohes Moralempfinden und Geißlers analytische Intelligenz könnten, wenn sie erst einmal gemeinsam marschieren und losschlagen, die Globalisierung womöglich stoppen und die marktradikalen Kräfte in die Schranken weisen. Dem SPD-Chef gelang etwas, wovon weder Bebel noch Lenin noch Ollenhauer zu träumen wagten: Ihm wurde sogar der Applaus einiger seriöser Repräsentanten der Ausbeuterklasse, darunter der Porsche-Chef Wendelin Wiedeking persönlich, zuteil. Erstmals gewinnt ein Antikapitalismus unter tatkräftiger Beteiligung der Kapitalisten an Boden.
Es zeigt sich: Müntefering hat nicht nur den richtigen Zeitpunkt erwischt und die angemessenen Worte gefunden – er hat auch, wenngleich bei unklarer Motivlage, die Folgen klug bedacht und mit einem Schlag die politische Landschaft verändert. Der Neoliberalismus sieht plötzlich ziemlich alt aus. Reduziert auf die FDP, die Grünen und die taz (laut Geißler eine marktliberale Gazette), könnte er in absehbarer Zeit eine vernachlässigenswerte Größe sein.