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Archiv-Artikel

Neues aus Neukölln

Zwar trägt er einen falschen Bart, Fertiggerichte und Führerscheine bietet er dennoch feil. Ein Lagebericht

In den Neuköllner Seitenstraßen mit ihren niedrigen Ladenmieten florieren die Geschäfte gegen den Trend: Hier haben Eigeninitiative und der Mut zur Gesetzeslücke einzigartige Schattenwirtschaftszweige etabliert – eine Kombination aus Alles-, Spät- und Jedesverkauf. Gerade als Anwohner lernt man den Luxus zu schätzen, nie weiter als 100 Meter laufen zu müssen, ganz egal, ob für Pizzen oder Sex.

Bis spät in die Nacht werden von kleinen Multifunktionsläden Erfrischungsgetränke, Süßigkeiten und Dosengerichte verkauft – die libertären Öffnungszeiten basieren auf den zehn vermutlich leeren Hüllen türkischer Videofilme, die in eine Ecke des Raums gestapelt sind und dem Ordnungsamt unmissverständlich bedeuten: Was willst du – das ist eine Videothek!

Unnachahmlich diversifiziert wirkt auch das Sortiment im „Shop 38“ in der Okerstraße. Vor verhängten Fenstern werben DIN-A 4-Ausdrucke mit „Tintendiscounter“, „Restbestände von allem“ und „Dienstleistungen aller Art“. „Sie wollen bei E-Bay steigern?“, wird näher ausgeführt, „Sie haben kein Bankkonto oder wollen dieses nicht preisgeben?“ Kein Problem. Im Laden streunen Katzen zwischen mehreren Sätzen brandneuer Autoreifen.

Leider gibt es heute meine gewünschte Druckerpatrone nicht mehr. Schade, die waren hier immer so billig. Der Händler sucht fahrig – der Tintenverkauf ist wohl eher ein unbedeutender Faktor innerhalb der Betriebsstruktur. Dennoch habe ich unbedingtes Vertrauen. Zwar trägt der Mann Sandalen und der Bart hängt falsch herum, doch in Geschäftsdingen sollte man nicht nach Äußerlichkeiten gehen.

„Druckerpatrone, hmm, hmm, für einen – wie war das doch gleich?“

„Canon i 560.“

„Sieht schlecht aus. Das sind nun mal alles Restbestände.“ Ich verkneife mir den Vorschlag, er möge doch seinen Haus- und Hofhehler das nächste Mal bitten, einen größeren Laster knacken zu lassen.

„Nee, tut mir leid“, gibt er die Suche auf, „wie wär’s denn mit nem Führerschein?“

„Hab ich schon.“

„Autoreifen, Geburtsurkunden, Fertiggerichte?“

„Danke, nein.“

„Dosenbiere? Versuchstiere?“

Er ist wirklich verdammt hartnäckig. Aber ich brauche nun mal eine Druckerpatrone. Für genau diesen Text. Zum Glück hat an der Ecke der Backshop „Etcetera“ noch offen. ULI HANNEMANN