piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Pause auf der Wiese im Müll

FOTOGRAFIE Die schwarz-weißen Arbeiterbilder des britischen Fotografen Chris Killip sind im Museum Folkwang in Essen zu sehen. Eine visuelle Erkundung der Conditio humana

Bilder wie das eines jungen Skinheads mit übergroßen Lederstiefeln, der 1976 in gequälter Haltung auf einer Mauer hockt, wurden als Sinnbilder des Thatcherismus rezipiert

VON MARKUS WECKESSER

Auf den ersten Blick scheinen Chris Killips Bilder wie aus der Zeit gefallen. Mit einer Plattenkamera und in Schwarz-Weiß arbeitet heute so gut wie niemand mehr, stattdessen dominieren Farbe und Digitaltechnik. Auch die Arbeiterklasse ist längst Geschichte. Dennoch ist das Werk des 1946 geborenen Briten von großem Einfluss für zeitgenössische Fotografen wie Martin Parr und Paul Graham.

Chris Killips Aufnahmen von herumlungernden Jugendlichen, abgerissenen Kohlensammlern und werkstolzen Arbeitern sind ein starkes Plädoyer für den Wert von sozialen Gemeinschaften, eine visuelle Erkundung der Conditio humana. Also alles andere als unzeitgemäß.

Die Bedeutung des 1946 geborenen Fotografen Killip steht im umgekehrten Verhältnis zu seiner Bekanntheit bei einem breiten Publikum. Eine vorzügliche Werkschau im Essener Museum Folkwang stellt nun 126 Arbeiten von 1965 bis 2005 vor. Die frühesten Bilder entstanden auf der Isle of Man, wo Chris Killip aufgewachsen ist. 1964 assistierte der Autodidakt zunächst in London bei dem Werbefotografen Adrian Flowers. Unter dem Einfluss der Arbeiten von Paul Strand und Walker Evans wandte er sich der künstlerischen Fotografie zu.

Warum sitzen sie am Rand?

Sein wichtigstes Initiationserlebnis verdankte er jedoch Henri Cartier-Bressons Foto von einem kleinen Jungen mit zwei Weinflaschen im Arm. Intuitiv verstand der damals Siebzehnjährige, wie wirkmächtig Fotografie sein kann: Sie vermag den Betrachter emotional zu binden und zugleich mit Inhalten zu konfrontieren, die über das Abgebildete hinaus verweisen.

Killips eigene Arbeiten wirken vergleichbar. Auf der jährlichen Gala für Bergarbeiter in Durham traf er etwa eine Familie, die sich am Rande ausruhte, obwohl die Wiese um sie herum von Müll übersät war. Doch warum bloß hatten sich die drei ausgerechnet hier niedergelassen? Wieso schauten die alten Eltern wie unbeteiligt weg, und warum trug das Kind Schuhe ohne Schnürsenkel? Auch wenn der Betrachter des Bildes schließlich erkennt, dass der Junge mit dem Down-Syndrom lebt – in Killips Bild werden nicht alle Fragen beantwortet.

Die Lebensbedingungen der Arbeiter im Nordosten Englands sind das Leitmotiv in Killips Bildern aus den 70er und 80er Jahren. Seien es die knorzigen Bauern und rauen Landschaften der Isle of Man (1970–73), die jugendlichen Fischer in Skinningrove (1981–83), die Sammler von Abfallkohle, die von der nahegelegenen Mine ausgesondert und am Strand von Lynemouth angespült wird (1982–84) oder die Pogo tanzenden Punker in Wearside (1984), immer geht es um Formen von Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein.

Bilder wie das eines jungen Skinheads mit übergroßen Lederstiefeln, der 1976 in gequälter Haltung auf einer Mauer hockt, wurden als Sinnbilder des Thatcherismus rezipiert. Dass die Eiserne Lady erst drei Jahre später an die Macht kam, ist im Grunde unerheblich. Nicht erst unter Thatcher wurden Bergwerke und Schiffswerften geschlossen, der Wandel wurde nur forciert.

Eine erdrückte Region

In seinem Buch „In Flagrante“ (1985) entwarf Killip das subjektive Stimmungsbild einer von Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit erdrückten Region. Im Gegensatz zur dokumentarischen Sozialfotografie verzichtete er darauf, seine Bilder zu dramatisieren und ihnen einen appellativen Charakter zu geben. Genuin politisch ist allein der Anspruch, die beobachteten Situationen öffentlich zu machen.

Umso mehr mag verwundern, dass Killip 1989 den Auftrag der Reifenfirma Pirelli annahm, ihre Mitarbeiter zu porträtieren. Da ihm aber freie Hand gewährt wurde, willigte er ein. Wie bereits in Skinningrove interessierte sich Killip vor allem für die Leidenschaft und Konzentration, mit der die Abgebildeten ihrer Tätigkeit nachgehen. Im Fokus steht der individuelle Arbeiter, nicht die Arbeit in der Fabrik, deren räumlicher Kontext oft ausgeblendet ist.

Mit Farbfotografie hat sich Killip, der seit 1991 an der Universität Harvard unterrichtet, in seinem eigenen Werk wenig beschäftigt. Zwischen 1993 und 2005 begleitete er irische Pilger zu den Bergen Croagh Patrick und Máméan. Die farbigen und schwarz-weißen Bilder haben die Größe von Postkarten und die Anmutung von privaten Erinnerungsfotos. Sie geben Einblick in die Gemeinschaft der in ihren Riten verwurzelten Wallfahrer auf ihrem beschwerlichen Weg. Inhaltlich schließt Chris Killip somit an die Serie „Isle of Man“ an. Es ist hoffentlich nicht der Abschluss seines künstlerischen Werks.

■ Bis 15. April 2012, Museum Folkwang, Essen, Katalog: Edition Folkwang/Steidl, 28 Euro