: Ein Geisterhaus zum Leben
SEELENLANDSCHAFTEN Erfindungsreichtum, Wendungen, Hakenschlagen: Ernst Augustin schreibt eine abenteuerliche Fantasie über das Verschwinden aus der Welt – „Robinsons blaues Haus“
VON ULRICH RÜDENAUER
In seinem Roman „Eastend“ aus dem Jahr 1982 lässt Ernst Augustin seinen Helden Almund Grau in ein surreales London ziehen. Dieser leicht derangierte Mann – er hat eine Encountergruppe und eine Nahtoderfahrung durchzustehen – verwandelt sich im Londoner Eastend unversehens in einen Psychoanalytiker namens Almond Grey. Wie ein Wiedergänger seiner selbst begibt er sich in einen verfallenden Stadtraum, eigentlich aber landet er in verworrenen „Landschaften der Seele“. Er lernt ein Männlein wie aus einer romantischen Erzählung kennen, den Kramladenbesitzer Mr. Bannister, der ihm als gute Fee drei Wünsche gewährt.
Traumhaft ist dieses Arrangement: Almond wünscht sich ein blaues Kapitänshaus, in das er schließlich auch einzieht und das wundersam seine Sehnsüchte widerspiegelt. Ein richtiges Domizil für Gespenster ist das.
In Ernst Augustins neuem Roman werden auch immer wieder neue Häuser und Wohnungen bezogen, umgebaut zu kleinen Festungen gegen die Außenwelt und den eigenen Seelenzuständen nachgebildet. Der Sinn des Lebens bestehe eben darin, heißt es einmal, sich einigermaßen wohnlich einzurichten: „… kurz, ich bin dabei, ein Geisterhaus zu bauen, in dem es sich leben lässt, ein Haus des Inneren, in dem ich herumlaufe. Oder noch kürzer, offenbar bin ich dabei, in mich zu gehen.“
Lesen in der Taucherglocke
„Robinsons blaues Haus“ ist eine große Fantasie über das Insichgehen, während die Welt draußen verschwimmt. Es ist eine Fantasie über das langsame Verschwinden, ein als Abenteuerroman getarntes Todesbuch. Schon auf der ersten Seite begegnet dieser moderne und immer wieder die Erscheinungsform ändernde Robinson seinem Schicksal, und dieses wiederum packt zu als unscheinbarer Mann: „Der Tod kommt in Gestalt eines freundlichen kleinen Herrn, der mir im Zug nach Grevesmühlen gegenüber sitzt, und er kommt auch nicht sofort, vielmehr lässt er mir Zeit, meine Angelegenheiten zu regeln.“ Wie er die regelt, wie er abtaucht und verschwindet, sich einbruchssichere Wohnungen an den seltsamsten Orten einrichtet, wie er seine immer wieder neuen Verfolger abschüttelt, ist so unwahrscheinlich wie von großer Suggestionskraft.
Diese Robinsonade führt von Grevesmühlen bis in die Südsee, und man versteht bald, dass sie sich vornehmlich im Kopf des Erzählers abspielt. Der ganze Wechsel der Szenerien, der ganze Erfindungsreichtum, die ganzen Wendungen und das Hakenschlagen haben nur einen Zweck – den potenziellen Peinigern zu entgehen und damit letzten Endes dem Tod. Schon als Kind muss er sich seiner Spielkameraden erwehren, die ihm nachstellen: Er erfindet aus der Not heraus eine Taucherglocke, bringt Stunden im Fluss zu und liest dort knapp unter der Wasseroberfläche nautische Literatur.
Es ist ein Spiel mit Möglichkeiten und Formen, auch mit Genres wie etwa dem Detektivroman. Dem huldigte Augustin bereits in seinem Roman „Der amerikanische Traum“. Der kleine Junge in diesem Buch aus dem Jahr 1989 weiß genau, wo die wahren Schätze in der Leihbücherei verborgen sind, im dritten Regal nämlich, „hinter der Liebe und dem Humor“. Er liest sie alle – „Tod im Bristol-Express“ oder „Die indische Maske“; er wird selber zum Detektiv im Tweedanzug und geht auf Gangsterjagd. Im dritten Regal lagert der Fundus, aus dem er in den letzten drei Sekunden seines Lebens schöpft: Es ist das Jahr 1944, der Junge fährt mit dem Fahrrad, als eine amerikanische Douglas mit drei Mann an Bord ihn als Feind ausmacht, zielgenau auf ihn herabstößt und ihn tödlich trifft.
Während er da liegt und sein Leben aushaucht, trägt ihn die Fantasie noch einmal weit davon – als Privatdetektiv Hawk Steen verfolgt er seine Mörder durch die USA; er erfindet sich seinen Traum, und drei Sekunden weiten sich zu einer großen Abenteuergeschichte von 270 Seiten. Hawk Steen – so würde vielleicht ein US-Amerikaner den Namen Augustin vernuscheln.
Von Raum zu Raum gelotst
Die Romane des 84-jährigen Ernst Augustin sind so immer auch Spiele mit der eigenen Identität, autobiografische Erweiterungen. „Meine Fantasie ist zu allem fähig“, schrieb der Autor einmal. Er durchleuchtet sowohl die dunklen inneren Kammern seiner Helden als auch die architektonischen Strukturen seiner Erzählräume und weiß genau, wie leicht, lautlos und schwebend man hinübergleiten kann in eine andere Welt und Zeit, hinab- und hinaufstolpern auf andere Wahrnehmungsstufen.
Die Welt ist alles, was die Fantasie ist – in „Robinsons blaues Haus“ wird man von Raum zu Raum gelotst, überlässt sich blindlings dieser abenteuerlichen Reise. Und selbst das Ende hat hier etwas Spielerisches: „Ich habe es immer gewusst. Seit er mir gegenüber saß, seit er mir Zeit ließ, meine Angelegenheiten zu ordnen. Mein ganz persönlicher, höchst privater Tod. (…) Ein freundlicher, kleiner Herr, der sich doch immer als recht zuvorkommend erwiesen hatte. Und auch jetzt keinen schlechten Eindruck macht. Im Gegenteil.“
■ Ernst Augustin: „Robinsons blaues Haus“. C. H. Beck, München 2012, 319 Seiten. 19,95 Euro