Besuch bei Hans

Der Mann war ihm unbekannt, nur dessen Mutter schien über seinen Kriegstod traurig. Aber wer war der Soldat, den ein nationalsozialistisches Kriegsgericht zum Rosa-Winkel-Aussätzigen machte und der in Norwegen begraben liegt? Eine zähe Suche in der deutschen Geschichte

VON DIETER ZIMMER

Die Reise nach Norwegen hatte ich seit über fünfundzwanzig Jahren vor. Aber immer, wenn die Entscheidung anstand, sie anzutreten, gab es tausend Gründe, lieber nach Italien oder Frankreich zu fahren. Um dem Zögern ein Ende zu setzen, beschloss ich damals, 1986, der achtzigste Geburtstag solle Anlass sein, Hans endlich zu besuchen.

Wie kam Hans eigentlich nach Norwegen?“, fragt Ulrike. „Mit einem Strafgefangenentransport der Wehrmacht“, sage ich. Der Transport mit etwa 1.100 Gefangenen kam im August 1942 aus verschiedenen Straflagern im Emsland. Hans war im Lager Esterwegen gewesen, ursprünglich eines der ersten Konzentrationslager des Dritten Reiches, später Straflager der Wehrmacht. Dort hat ihn damals sein Bruder Werner, der sich dienstlich Zugang verschaffen konnte, besucht.

Er war das letzte Familienmitglied, das Hans zu Gesicht bekam.

Werner hat mir das vor Jahren einmal erzählt: Die beiden Brüder durften nur durch den Stacheldrahtzaun ein paar Worte wechseln. Hans in abgerissener Sträflingskleidung und Holzpantinen, abgemagert, kahlgeschoren, unrasiert. Er bat um eine Zigarette, paffte gierig ein paar Züge. Wie es ihm ginge? Er zuckte nur mit den Schultern.

Hans trug Grüße an die Eltern auf, an seine Frau, an seinen zweijährigen Sohn. Ehe er ein Wort über seine Kriegsgerichtsverhandlung hätte sagen können, trieb ihn ein Wächter vom Zaun zurück zu den Kameraden. Werner war ein alter Mann, als er mir das berichtete, und er heulte dabei, als sei es gestern gewesen.

Auch ich bin nach Esterwegen gefahren, vor einiger Zeit. Wo das Lager war, war inzwischen ein Depot der Bundeswehr. Das Depot, sagen Leute in der Gegend, sei merkwürdig eilig angelegt worden, als sich der Ruf erhob, auf dem Gelände eine Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus zu errichten. Nun erinnert bloß eine Tafel neben der (neuen und alten) Einfahrt an die Vorgeschichte.

Einige Kilometer entfernt ist allerdings auf dem Friedhof des Lagers eine Gedenkhalle gebaut worden. Die Gefangenen in Esterwegen mussten Torf stechen. Das war eine gnadenlos harte Arbeit, sommers wie winters, aber nicht so schlimm wie die Prügel, der Hunger, die Schikanen, die Demütigung, die Entwürdigung. Man kann das nachlesen in den Aufzeichnungen Überlebender. Vor allem natürlich in Wolfgang Langhoffs „Die Moorsoldaten“, aber auch in den zahlreichen Veröffentlichungen des „Dokumentations- und Informations-Zentrums“ für die Emslandlager in Papenburg.

Es war, erinnere ich mich, ein eigenartiges Gefühl, auf dem alten, mit Ziegelsteinen gepflasterten Weg vom Lager ins Moor zu gehen und sich vorzustellen, dass damals auf ebendiesem Weg Hans in seinen Holzpantinen …

„Wie kam es zu der Verurteilung?“, fragt Ulrike. Sie ist meine Frau. „War da vielleicht so ein Kriegsrichter wie Filbinger am Werk? So ein furchtbarer Jurist?“ – „Ich weiß es nicht. Aber er wird seine Pflicht getan haben.“

Hans wurde wegen Homosexualität verurteilt. Hans war mein Vater. Untergebene hatten ihn angezeigt und sagten gegen ihn aus. Seine Brüder und seine Freunde waren später alle der Ansicht, der Vorwurf sei ein Vorwand gewesen. In Wahrheit sei es um seine „weltanschauliche Unzuverlässigkeit“ gegangen, seine ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus, die er nie ganz hatte verbergen können.

„Kannst du dir vorstellen“, frage ich, „dass es ein Kriegsgericht der deutschen Wehrmacht im Jahr 1941 nötig hatte, einen Vorwand zu benutzen, um einen politisch missliebigen Offizier zu verurteilen?“ – „Ja“, antwortete Ulrike. Und: „Vielleicht war es auch gar kein Vorwand. Und er war wirklich homosexuell. Doch ist das wichtig? Wichtig ist, dass er gegen die Nazis war, oder?“

Wir waren nach langer, zäher Reise durch Norwegen in Narvik angekommen, endlich.

Narvik. Für uns in Mitteleuropa liegt das weit im Norden, für die Norweger ist es erst die Mitte ihres Landes. Von hier aus wollen wir zu Hans’ Grab fahren. Wenige Touristen hier, obwohl es der warme August ist.

Einem älteren deutschen Ehepaar im Opel Omega begegneten wir auf Schritt und Tritt. Sie besuchten wie wir den deutschen Soldatenfriedhof von Narvik. Der ehemalige Landser nickte uns erkennend zu, wir nickten vorsichtig zurück, nicht zu auffordernd, wir wollten nicht in eine Fachsimpelei über den Krieg verstrickt werden. Er las seiner Frau Namen vor, die auf den Grabsteinen stehen. Wir hörten zu, halb ungewollt, halb neugierig.

Er gab Einschätzungen einiger ihm bekannter Gefallener: War’n feiner Kerl, tapfer bis zum Umfallen. War’n Hasenfuß, außerdem politisch unzuverlässig. War so’n intellektueller Spinner, mit Reclam-Bändchen im Tornister.

Der Landser schritt zielstrebig die Reihen ab, schien sich auszukennen. Wir wollten ihm zugute halten, dass er beim ersten Besuch dieses Friedhofs Empfindungen gehabt habe. Aber jetzt machte er nur seine Führung.

Ich stellte mir vor, ich käme mit ihm ins Gespräch und erzählte ihm die Geschichte von Hans. Die Reaktion dachte und denke ich mir so: Ach, so einer? Wissen Sie, hätte er mir bedeutet, mit dieser Art von Leuten hatten wir anständigen Soldaten nichts zu tun.

Über Hans weiß ich, dass er Hitler und den Krieg verabscheute. Hinterher wollten es zwar fast alle vorher gewusst haben: dass Hitler nichts Gutes bringen werde. Man muss also vorsichtig sein gegenüber Beteuerungen. Aber bei Hans bin ich mir sicher.

Warum waren die einen für Hitler und die anderen gegen ihn? Das ist, wie wir längst zu wissen glauben, ganz einfach zu erklären mit sozialer Herkunft und Familientradition, teilweise auch mit konfessioneller Bindung beziehungsweise Nichtbindung sowie mit regionalen Besonderheiten. So war Famile A geradezu unvermeidlich für Hitler, konnte quasi beim besten Willen nicht anders, während Familie B eben so zwangsläufig gegen ihn war.

Ganz einfach!

Ganz einfach? Am Beispiel von Hans habe ich früh gelernt, dass es anders war. Sein Vater: NSDAP. Sein Bruder: NSDAP. Seine Mutter: unpolitisch, aber emotional gegen den Führer. Hans: strikt gegen ihn.

Hans hat sie verachtet, die bornierten braunen Karrieristen, die mangelnde Kenntnisse und Fähigkeiten durch stramme (vielleicht nur geheuchelte) Gesinnung ersetzten.

Hans war Polizeioffizier, hatte den Beruf mit preußischer Gründlichkeit gelernt. Plötzlich kamen die flotten Jungs von der SS und erklärten den alten Fuhrleuten den Polizeidienst. Eines Tages hielt ihm einer den Jahre alten Aktenvermerk unter die Nase: Er habe 1931 bei Straßenkämpfen zwischen Nazis und Kommunisten in Berlin einen SA-Mann erschossen. Das war nicht bewiesen worden, nur behauptet. Die Ermittlungen waren ergebnislos eingestellt worden. Na ja, hieß es ab 1933: Kein Wunder, damals in der „Systemzeit“, da durften Nationalsozialisten straflos abgeknallt werden wie die Hasen. (Heute wissen wir: Nichts in der Weimarer Republik war auf dem rechten Auge so blind wie die Justiz.)

Hans hatte mit dem Vorwurf zu leben. Sie warfen ihn nicht hinaus, aber sie ließen ihn nicht aus dem Auge. Eine Kuriosität weist sein Lebenslauf auf: Ein paar Kilometer von Esterwegen, wo er Häftling war, lag das KZ Börgermoor, und dort gehörte er eine Zeit lang zur Wachmannschaft. Als ich zum ersten Mal davon hörte, war ich erschrocken: Hans ein KZ-Wächter? Inzwischen weiß ich, wie es kam. Börgermoor war eines der ersten und übelsten KZ des Dritten Reiches. Wenn irgendwo das Wort von den brutalen SS- und SA-Horden Berechtigung hatte, dann dort. So übel ging es in Börgermoor zu, dass im Herbst 1933 preußische Polizei geschickt wurde, das Lager zu übernehmen. Hans war dabei, in der Lagerkommandantur – bis „preußische Ordnung“ herrschte. Das war, acht Jahre bevor er nebenan in Esterwegen selbst Häftling wurde …

Ulrike mochte mehr über Hans wissen. Tatsächlich hatten wir nicht oft über ihn gesprochen. „Im Nachhinein“, sage ich, „finde ich es merkwürdig, dass in meiner Familie immer nur von ‚Hans‘ die Rede war. Niemals hieß es: ‚dein Vater‘. Es war immer, als würde über einen gesprochen, von dem man sich distanzieren wollte.“ – „Warum war das so?“ – „Ich denke, es lag daran, dass sie ihn als Homosexuellen verurteilt hatten.“ – „Aber niemand weiß, ob er’s wirklich war.“ – „Schon. Aber ich denke, sie haben gedacht: Irgendwas wird wohl dran sein.“

Einen Kilometer weiter fragt Ulrike: „Und wenn er’s war?“ – „Jaja“, sage ich, „das können wir heute leicht sagen. Aber damals, im Dritten Reich! In den KZ waren die mit dem ‚rosa Lappen‘ doch die ärmsten Schweine.“ – „Rosa Lappen?“ – „Sie trugen ein rosa Dreieck an ihrer Häftlingskleidung.“ – „Hast du irgendeine Erinnerung an deinen Vater?“ – „Nein.“

Hans hatte seinen letzten Heimaturlaub, als ich anderthalb Jahre alt war. Davon gibt es Fotos, auf denen er und ich zusammen abgelichtet sind. Hans’ mürrischer Ausdruck auf diesen Fotos wurde manchmal damit erklärt, dass er etwas gegen Kinder gehabt habe.

Das kann ich mir nicht vorstellen. Insbesondere seitdem ich selbst Vater bin, will mir diese Vorstellung nicht einfallen. Es wird wohl etwas anderes gewesen sein. Soldaten auf Heimaturlaub, denke ich mir, konnten nicht besonders fröhlich sein. Hatten sie doch immer vor Augen, dass es möglicherweise ihr letzter Heimaturlaub sein könnte. Bei Hans kam unter Umständen hinzu, dass er bereits ahnte, was sich über ihm zusammenbraute. Denn kurz nach seinem letzten Heimaturlaub wurde er verhaftet und vors Kriegsgericht gestellt.

„Hast du ihn irgendwann vermisst?“, fragt Ulrike. „Nein“, antworte ich ohne Zögern. Es ist so. Erstens kann man niemanden vermissen, den man nicht kennt. Zweitens war es damals alltäglich, dass Kinder ohne Vater aufwuchsen. Kriegerwaisen. Drittens gab ich mich mit der Erklärung zufrieden, Hans sei gefallen.

Diese Vokabel machte meinem Kinderhirn anfangs Schwierigkeiten. Gefallen? Hingefallen? Umgefallen? Warum war er nicht wieder aufgestanden? Dann also: tot. Gefallen, lernte ich, hieß so viel wie tot. Gefallen in Norwegen. Wo war das? Im Norden. Hinter Berlin? Ja, weit hinter Berlin. Sehr weit dahinter. Gut. Das genügte.

Heute weiß ich, dass „gefallen“ in diesem Fall eine freundliche Umschreibung für die Art und Weise war, wie er zu Tode kam. Ich habe nachgelesen, wie es zuging auf dem Transport der Strafgefangenen nach Norwegen. Sie wurden in Stettin in den Bauch eines Frachters verladen. Dort unten blieben sie bis zu ihrer Ankunft am Eismeer. Man gab ihnen verdorbene Lebensmittel. Sie litten entsetzlich unter Durchfall und Erbrechen.

Man verwehrte ihnen, an die frische Luft zu gehen. Man verwehrte ihnen sogar, ihre beschmutzte Kleidung zu waschen. Man ließ sie in bestialischem Gestank vegetieren. Man warf ihnen altbackenes Brot in den Kot und ergötzte sich daran, dass sie sich darum balgten, um nicht zu verhungern.

Ich sagte „man“: Das waren, wohlgemerkt, keine SS- oder SA-Horden, sondern Offiziere und Soldaten der Deutschen Wehrmacht und Beamte der deutschen Justiz. Sie hatten, das ist heute kein Geheimnis mehr, einen Heidenspaß daran, „Unwürdigen“ den letzten Rest menschlicher Würde zu nehmen.

Bei der Ankunft in Nordnorwegen kam Hans, mein Vater, in das Lager Lakselv. Der Ort liegt ungefähr 170 Straßenkilometer südlich vom Nordkap. Die Strafgefangenen mussten erst mal Unterkünfte für sich selbst bauen. Dann Straßen für die Wehrmacht anlegen und sie im Winter von Schnee und Eis befreien. Sklaven gleich, hatten sie die niedrigste Stufe menschlicher Existenz erreicht. Sie waren freigegeben zur „Vernichtung durch Arbeit“.

Man braucht einen starken Magen, um die Schilderungen der Überlebenden zu verdauen. Im grimmigen Polarwinter machten sich die bewachenden Beamten einen Spaß daraus, ihre Sklaven wegen geringfügiger Vergehen – beispielsweise Diebstahl eines Brotkantens – ohne Handschuhe im Freien strammstehen zu lassen. Wer sich vom Fleck rührte, wurde auf der Flucht erschossen. Wenn die Finger endlich schwarz gefroren waren, wurden sie, ohne Betäubung, mit einer Kneifzange amputiert. Der Patient war dann nicht mehr lange lebensfähig.

Ich erzähle Ulrike diese Dinge, die ich gelesen habe. „Was würdest du heute mit so einem Beamten machen?“, fragt sie. Das hatte ich mich auch schon gefragt. Die Namen dieser Sadisten sind ja bekannt. Auch der des Herrn S., der das Lager Lakselv leitete. Ich hoffe, er ist schon lange tot. Ich denke, es ist gut, dass ich erst spät dieser Geschichte nachgegangen bin. Hätte ich mich früher dafür interessiert, hätte ich Herrn S. aufsuchen müssen. Und dann? Erschlagen? Oder nur ohrfeigen? „Es ist besser“, antworte ich meiner Frau, „dass die Zeit darüber hinweggegangen ist.“

Hans starb zu seinem Glück schon zwei Monate nach der Ankunft in Norwegen. Offiziell an der Ruhr. Bei der Umbettung von Lakselv auf den Soldatenfriedhof in Botn-Rognan stellten die Mitarbeiter der Kriegsgräberfürsorge am Skelett keine Verletzungen fest. Gefallen sagte also die Oma dazu.

An Hans’ Geburtstag schenkte sie mir, als ich klein war, immer etwas, als hätte ich selbst Geburtstag. Nie gelang es ihr, für mich einen Feiertag daraus zu machen. Ich hatte jedes Jahr von neuem das Datum seines Geburtstags vergessen. Die Oma war darüber sehr traurig. Außer ihr sprach niemand von ihm, ihrem Sohn, meinem Vater.

Hans ist nicht alt geworden. Sechsunddreißig. Die Gefallenen auf dem Soldatenfriedhof in Narvik sind zwar fast alle jünger gestorben, aber unter normalen Umständen ist sechsunddreißig kein Alter. Als ich sechsunddreißig war, wurde mir am Beispiel von Hans bewusst, dass ich Glück hatte, weiterleben zu dürfen. Ich nahm mir vor, ihn endlich zu besuchen. Aber es sollte noch lange dauern. Nun ist es so weit. Morgen.

Mir ist klar, dass solch ein Besuch nur symbolische Bedeutung hat und niemandem nützt, und vielleicht nur mir. Es ist, vordergründig, nichts weiter als ein Augenscheinnehmen: Hier liegt er also, es hat seine Ordnung, der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat mich richtig informiert.

In ähnlicher Weise suchte (und fand) ich auch das Haus, in dem er geboren worden war. Es steht in Dessau. Es war nicht schwer zu finden, da die Straße über die Jahrzehnte hinweg ihren Namen behalten hat und nicht nach Wilhelm Pieck oder Klement Gottwald oder Georgi Dimitroff benannt worden ist. Ich verglich die Fassade mit dem alten Foto, das ich mitgebracht hatte: Da schaut die Oma aus dem Fenster und hat den zweijährigen Hans auf dem Arm.

Ebenso kenne ich die Stätten seiner Jugend in Leipzig und die Häuser in Berlin, Düsseldorf, Worms, Gera, in denen er während seines unruhigen Berufslebens gewohnt hat. Und das Lager Esterwegen. Ein Lebenslauf, abgeschritten an weit verstreuten Schauplätzen, die nur für mich einen, meinen Zusammenhang ergeben. Bloß der Friedhof fehlt noch, er lag immer zu weit entfernt.

Den deutschen Soldatenfriedhof in Botn bei Rognan kann man leicht verfehlen. In einer Kurve der Straße nach Bodø weist unvermittelt ein Schild nach rechts. Man quert die Schienen der Nordlandbahn Oslo–Bodø, folgt einem schmalen asphaltierten Weg durch den Wald bis zu einer kleinen Lichtung. Dort gabelt sich der Weg und endet der Asphalt. Durch das Eingangsgebäude treten wir auf das Gräberfeld. Ein steinernes Kreuz von etwa zweieinhalb Metern Höhe beherrscht die Fläche, Zweiergruppen kleinerer Kreuze sind unregelmäßig über den Rasen verteilt. Das auffällige Rauschen erklärt sich damit, dass von der Bergwand hinter dem Friedhof ein Wasserfall zu Tal stürzt.

Zurück im Eingangsgebäude sehen wir in den ausgelegten Listen nach, wo Hans liegt. Die Gräber sind übersichtlich angeordnet, man findet sie leicht in einem Raster von Längs- und Querreihen. Blumensträuße auf einzelnen Gräbern, ein Dutzend vielleicht, unterbrechen die Einförmigkeit. Ist es recht, dass man Einzelne so hervorhebt? Sollte man nicht am Eingang einen Blumensammelplatz anlegen? Für alle Kameraden zugleich?

Mir fällt plötzlich ein, dass ich der erste verwandte Besucher an Hans’ Grab bin. Muss man Gräber besuchen? Fördert es in irgendeiner Weise die Verbundenheit mit den Toten, wenn die Überlebenden vor einem Stein stehen, eine Träne zerdrücken und einen Blumenstrauß niederlegen? Juden legen einen Stein aufs Grab, zum Zeichen, dass sie es besucht haben. Sind unbesuchte Tote vergessener als oft besuchte?

Jeweils zwei Namen sind in die Grabplatten eingemeißelt. Hans hat einen Partner für die Ewigkeit. Er heißt Wilhelm Flora, war Obergefreiter und starb noch jünger, nämlich mit vierundzwanzig. Im Leben werden sie sich nicht gekannt haben, der Obergefreite Wilhelm und der Hauptmann Hans. Oder vielleicht doch? Ich müsste herausbekommen, wer dieser Flora war.

Wie sicher ist eigentlich, dass wirklich Hans und Flora unter dem Zweierstein liegen?

Man hörte oft, dass trotz größter Sorgfalt nicht alle Gefallenen zweifelsfrei identifiziert werden konnten. Wenn die Erkennungsmarke nicht eindeutig Auskunft gab, verglich man Größe, Kopfform, Gebiss des Toten mit den Angaben, die von den Lebenden bekannt waren. Und wenn dann immer noch Zweifel blieben? Wie wichtig ist das? Hans hat hier sein Grab. Selbst wenn seine Überreste woanders liegen sollten: Hier ist sein Grab.

Hat nicht jedes Grab vor allem eine übertragene Bedeutung? Der Regen hört nicht auf. Wir müssen trotzdem ein paar Fotos machen, denn wir werden wohl kein zweites Mal an diesen Ort kommen. Wir legen unseren Blumenstrauß, der in Rognan schwer zu bekommen war, auf die Grabplatte. So, dass die Inschrift noch zu sehen ist. Ulrike fotografiert: Sohn an Vaters Grab.

Mit einem Mal geht der Besuch an die Nieren. Unerwartet. Hans war doch fast nie ein Thema, auch kein Problem, kein wirkliches. Nur besuchen wollte ich ihn irgendwann, weil der Mensch mal am Grab des Vaters gewesen sein sollte. Weiter nichts.

Aber jetzt purzeln Gedanken durch den Kopf. Letzter Heimaturlaub bei Frau und Kind, Kriegsgericht, Straflager im Emsland, Schiffstransport von Stettin, Straflager in Norwegen, Tod. Vielleicht verhungert, vielleicht erschlagen. Zuvor jedenfalls aufs Äußerste entwürdigt.

„Alles Gute zum Achtzigsten“, sage ich, damit die Stimmung erträglicher wird. Es ist wirklich der Achtzigste, auf den Tag genau. Wenn schon, denn schon! Wir wollen gehen, aber der Ort hat etwas Magnetisches. Er zwingt dazu, am Ausgang noch mal umzukehren, den Abschied hinauszuzögern, ein paar Minuten wenigstens. Es regnet, der Wasserfall rauscht.

Dieser Besuch war 1986. Ich glaube längst, wir werden doch noch einmal nach Botn-Rognan fahren. Mit den Kindern, die damals zu klein waren. Sie kennen ihren Großvater nicht, nur seine Geschichte, aber sie wollen sein Grab sehen. Der hundertste Geburtstag meines Vaters ist im nächsten Jahr.