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Archiv-Artikel

Cosima guckt schon wieder fern

Nach dem Versagen der Systeme Sozialismus und Kapitalismus liegt das letzte Glücksversprechen vielleicht tatsächlich in den eigenen Tomatenstauden: Das Performance- und Kunstformat „X-Wohnungen“ zeigt in Berlin Theaterstücke in privaten Wohnräumen und erfindet sich dabei jedes Mal aufs Neue

Manche Wohnungen sind zu perfekt, um noch inszeniert zu werden

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Man weiß nie, was hinter der nächsten Tür geschieht. Findet eine Trauerzeremonie statt für einen Gefallenen in den Kriegen an Europas Rändern? Ist man einfach Gast beim normalen Feierabend einer türkischen Familie? Muss man auf Anleitung des Regisseurs Harun Farocki Drogen verstecken oder darf die Rolle des Fahnders übernehmen in einem soziologischen Feldversuch über das Such- und Versteckverhalten von Männern und Frauen? X-Wohnungen, ein Performance- und Kunstformat in privaten Wohnräumen, das jetzt zum dritten Mal aufgeführt wurde, erfindet sich jedes Mal wieder neu. Nicht nur, weil immer wieder neue Akteure aus dem Theater, vom Kino oder der bildenden Kunst dazustoßen, sondern vor allem, weil sich die Aufführungsorte ändern. Diesmal sind das Märkische Viertel und der Stadtteil Schöneberg in Berlin Tatort der Künste.

Bei kaum einem anderen Kunstprojekt verbünden sich soziologische Forschung in den Mikrostrukturen des Alltags und die Frage nach dem Gewordensein des Hier und Jetzt so sehr mit einem ästhetischen Konzept, in dem das Authentische und das Klischee, das Wahre und der Fake nicht mehr zu unterscheiden sind. X-Wohnungen bezieht seine Kraft aus dem Hunger der Kunst nach Realität ebenso sehr wie aus der Gleichgültigkeit der Realität gegenüber der Kunst. Es verrät das eine nicht an das andere. Das macht seine Stärke aus.

Natürlich ist der Besucher auch Voyeur und selbstverständlich nehmen die Inszenierungen – etwa von der Choreografin Meg Stuart oder der Filmregisseurin Ayse Polat – das als kritisches Motiv auf. Nur in einen kleinen dunklen Flur lässt Ayse Polat den Besucher, aber vor jeder der fünf Türen, die zu den kleinen Zimmern abgehen, steht eine Lochkamera und zeigt ein schwaches Bild des Wohnens dahinter. Man wird ganz präzise an der Schwelle gehalten und erhält doch genug Geräusche und Schemen, das Leben dahinter zu spüren. Manche Wohnungen sind zu perfekt, um noch inszeniert zu werden. Ausgerechnet Jonathan Meese darf in so einem Museum seine privaten Obsessionen spielen. Die Wände sind unübersehbar wie ein Meer vollgehängt mit Kunst und Erinnerungen, aber bevor man noch den Blick schweifen lassen und ins Staunen verfallen kann, machen es einem Meese und die Regisseurin Angela Richter mit einer durchsichtigen Inszenierung richtig schön ungemütlich. Ziehen einen mit drei Schritten in eine beklemmende Intimität an den Rand eines Bettes, in dem ein Mensch regungslos unter Kartoffelchips liegt, und spucken einen dann als Störenfried schon wieder aus. Der Künstler, denkt man sich da, ist doch ein fauler Hund und wohl eifersüchtig auf die vorgefundene Pracht, dass so gar keine Zeit bleibt, in diesen Kosmos einzutauchen.

Ganz anders gehen Folke Köbberling und Martin Kaltwasser an die Sache ran. Die beiden Spezialisten für Improvisationen im urbanen Raum haben eine Hinterhof-Idylle in Schöneberg aufgespürt und lassen die Anwohner von Hausbesetzer-Zeiten, dem Gemüsegarten in der Laubenkolonie und den Plänen von einem möglichen Park auf altem Gleisgelände erzählen. Man sitzt dabei in der Laube, bekommt eine leckere Kartoffelsuppe und wärmt sich an Lokalgeschichte. Zu nächsten Station führt ein Spaziergang durchs Grüne und eine geheimnisvolle Autofahrt. Dann steht man unvermutet in einer Wohnung, in deren gewundenen Fluren Champignons wachsen, während Salat auf dem Billardtisch sprießt und die Kaninchen mit den schönen Namen Cosima, Casimir und Nepomuk eine spezielle Kaninchen-Sendung im Fernsehen anschauen. Das klingt nicht nur verrückt, das ist es auch. Das hat ebenso viel von Alices Weg hinter den Spiegeln wie von der neuen Ökonomie der Selbstversorger in den aufgegebenen Städten. Nach dem Versagen der Systeme Sozialismus und Kapitalismus liegt das letzte Glücksversprechen vielleicht tatsächlich in den eigenen Tomatenstauden. Man weiß nicht mal, ob die verantwortlichen Künstler, Franz Höfner und Harry Sachs, die Wohnung so entdeckt oder so eingerichtet haben – aber das ist letztendlich nicht mehr wichtig.

Am Rande des Parcours führt sich die Stadt selber auf und zeigt in Schöneberg auf engem Raum eine theatralisch hervorragende Mischung von Sozialpalästen, Massen von Spielplätzen, winzigen Laubenkolonien, ein erstaunliches Potenzial an Grünflächen auf Gleisgelände, den Straßenstrich und teure Quadratmeter in muffigen Neubauten. Hundertmal bin ich hier schon langgekommen, aber noch nie wurden mir dabei so viele Geschichten offeriert.

Matthias Lilienthal, heute Intendant am HAU-Theater in Berlin, hat das Projekt X-Wohnungen 2002 mit initiiert als Leiter des Theaters der Welt. Schon in Duisburg war Arved Schulze als Dramaturg dabei, der den Parcours auch jetzt wieder mit anderen leitet. Im Sommer 2004 fand X-Wohnungen in Berlin Kreuzberg und Lichtenberg statt und viele Filmemacher, denen das Thema Migration nahe lag, nahmen teil. Diesmal findet X-Wohnung geschickt parallel zum Beginn des Theatertreffens statt und man kann sicher sein, dass wieder viel Kulturprominenz auf Tour geht. Weil das Publikum nur in Zweier-Gruppen unterwegs ist und weil man nach zehn Minuten ungefähr jede Station verlässt und zur nächsten weiterzieht, ist das Projekt auch enorm personalintensiv und exklusiv. Das trägt natürlich zu seiner Mythisierung bei. Man kann gar nicht anders, als hinterher schwärmerisch zur Legende beizutragen.