: „Wir sind antinationalistisch“
Heute spielen Tocotronic in Berlin auf der Politgala „Deutschland, Du Opfer“, die sich gegen Geschichtsrevisionismus und deutsche Opfermythen wendet. Ein Gespräch darüber mit Dirk von Lowtzow, dem Sänger der Band
taz: Warum treten Sie bei dieser Veranstaltung auf?
Dirk von Lowtzow: Es ist bei uns schon lange Tradition, derartige Veranstaltungen zu bespielen. Und es ist für uns reizvoll, da wir uns mit dem Anliegen der Veranstalter identifizieren können: zum Tag der Befreiung den neuen deutschen Opfermythos zu kritisieren, diese Stimmung anzugreifen, mit der allenthalben versucht wird, Deutschland und die Deutschen als eigentliche Kriegsopfer darzustellen.
In Ihren Songs sind Sie allerdings nicht so explizit politisch.
Wir widmen unser musikalisches und textliches Werk eben nicht dem – ich sage jetzt mal –linken Kampf. Wir waren aber immer eine politische Band, denn die politische Gesamtlage, auch die Produktionsbedingungen und etliches mehr, reflektieren wir immer mit.
Sie wollen aber nicht das politische Auftragslied liefern …
Nein, das ist nicht unsere Art, dezidiert politische Botschaften in Liedform zu verpacken. Gleichwohl gibt es bei uns Stücke wie „Aber hier leben, nein danke“, das eine Ode an die Poesie ist und ihre Kraft, Territorien zu sprengen. Aber natürlich ist der Zeitpunkt der Single-Veröffentlichung dieses Stückes, als es großen Druck gab, sich zu renationalisieren, auch als politisches Statement zu verstehen.
Musik ist bei solchen Veranstaltungen ja oft Unterhaltungsprogramm. Etwa der Auftritt von Silbermond beim Gedenken an die Bombardierungen in Dresden.
Die politische Richtung ist ausschlaggebend. „Deutschland, Du Opfer!“ hat unsere Richtung. Wenn man für die Dresdner Opfer auftritt, liegt das für uns am anderen Ende des politischen Spektrums. Das begünstigt ja die von uns bekämpfte Art von Geschichtsrelativismus.
Spielen Sie Variationen Ihrer Stücke auf politischen Veranstaltungen ?
Auch wenn das sehr abgefuckt klingt: Wir spielen unsere Stücke runter. Als Band können wir nur das anbieten. Kann sein, dass wir spontan bei der Ansage oder in den Songzeilen darauf eingehen. Aber das ist nichts, was man programmatisch machen sollte.
Glauben Sie, dass das politische Statement von Ihrem Publikum goutiert wird?
Da bin ich überfragt. Bei solchen Veranstaltungen gibt es die Gefahr, das man ein Preaching to the converted betreibt. Den anderen ist auch schlecht zu predigen. Ein Grundverständnis für diese Problematik muss man schon voraussetzen können.
Ihre Funktion ist es aber doch, ein breiteres Publikum zu der Veranstaltung zu ziehen …
Es ist herrlich, so funktionalisiert zu werden, eine bessere Funktionalisierung gibt es nicht.
Sie haben sich ja bislang vehement gewehrt, in den „neuen deutschen Mainstream“ einsortiert zu werden, also auf Compilations wie „Heimatkult“ oder „Neue Heimat“…
Diese Compilations empfinde ich eher noch als harmlos, wir sind ja auf dem einen oder anderen auch drauf. Doch ist das nur ein Teilaspekt einer Sache, die uns letztes Jahr sehr übel aufgestoßen ist: der Versuch, deutsch singende Bands zu benutzen und in eine Art „neues Nationalgefühl“ einzubetten. Das führt weiter zu „Das Wunder von Bern“ etc. Da wird eine deutsche Identität hergestellt, die besagt: Wir sind jung, wir sind es leid, Schuld zu übernehmen, und können uns wieder mit diesem Land identifizieren. Als wir anfingen, ging es uns um das Deutsche als Quasifremdsprache, wir standen da in der Tradition von Bands wie Kolossale Jugend und Blumfeld. Da wurde größter Wert darauf gelegt, dass damit keine gesamtdeutsche Identität gestiftet wird. Wir sind schockiert, was für Labels und Künstler jetzt in diese Kerbe reingehauen haben.
Heißt das, 2005 wäre es unwahrscheinlich, das Tocotronic ein Stück wie „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ aufnehmen würde?
Das würde ich nicht sagen. Das Stück heißt ja nicht: „Wir sind jetzt eine deutsche Jugendbewegung“, und es geht da ja um die Unmöglichkeit dieser Bewegung. Aber wir würden es wohl nicht einspielen, das wäre ja seltsam in unserem Alter.
Wenn KP Berlin, Eintracht Berlin und die Jungle World zu einer Gala aufrufen, kann es sein, dass aus dem Publikum Sätze wie „Deutschland muss aufhören“ kommen.
Ja, logisch. Schon durch die Mitwirkung auf Compilations wie „I can’t relax in Deutschland“ vom Leipziger Conne Island ist klar, dass wir keine Berührungsängste mit Bewegungen haben, die man gemeinhin als antideutsch rezipiert. Als antinationalistisch zu gelten macht uns kein Kopfzerbrechen, das ist doch klar, dass man als Band wie als Privatperson antinationalistisch ist.
INTERVIEW: JÖRG SUNDERMEIER
Heute Abend, ab 18 Uhr, zwischen Fernsehturm und Rotem Rathaus in Berlin, Tocotronic, Von Spar und andere