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Archiv-Artikel

Gefährlicher Sinneswandel

Erneut droht die EU auf dem Balkan zu versagen. Erhalten Kroatien, Serbien und Bosnien keine klaren Angebote aus Brüssel, schmilzt der Einfluss Europas dort wie Eis in der Sonne

Einen erneuten Unruheherd Balkan kann sich die EU aber nicht leisten

Als die EU Rumänien und Bulgarien Ende April in einem feierlichen Akt den Beitritt für 2007 signalisierte, waren die Reaktionen reserviert. Nicht nur in Deutschland tauchten quer durch die politischen Lager Ängste vor Lohndrückerei, Schwarzarbeit und unkontrollierter Zuwanderung in die „alte“ EU auf. Sollten beide Länder die Auflagen nicht erfüllen, könnte ihre Aufnahme um ein weiteres Jahr verschoben werden, beruhigten zwar die Kommissare in Brüssel. Doch das Unbehagen über immer neue Mitglieder mit all ihren sozialen und politischen Problemen bleibt.

In den außer Slowenien restlichen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien und in Albanien, die im politischen Jargon jetzt „Westbalkanländer“ genannt werden, registriert man diese Diskussion in den alten EU-Ländern natürlich genau. Und fürchtet, zwischen die Mahlsteine der Türkei- und Rumäniendiskussion zu geraten, vor allem wenn die Abstimmung über die EU-Verfassung in Frankreich scheitern würde.

Allerdings steht die EU auf dem Balkan stärker im Wort als in bezug auf andere Länder. Wenn die Nachfolgestaaten Jugoslawiens mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag kooperieren sowie die so genannte Roadmap abarbeiten, also grundlegende Reformen der Wirtschaft, des politischen und juridischen Systems durchsetzten, stünde einer Aufnahme nichts im Wege, wiederholten Politiker aus der EU in den letzten Jahren immer wieder. Wenn nicht, würde die entsprechenden Länder politisch und wirtschaftlich isoliert.

Diese Strategie „Zuckerbrot und Peitsche“ hatte trotz mancher Widersprüche und Zeitverzögerungen insgesamt beträchtlichen Erfolg. Die EU hat mit der Aussicht auf die Mitgliedschaft die alten politischen Kräfte, die nationalistischen Extremisten und rückwärtsgewandten Bewegungen, in die Defensive gebracht. Denn die Mehrheit der Bevölkerungen in all diesen Ländern hat nur einen großen Wunsch: nach all den Jahren des Niedergangs, der Kriege und des nicht leicht zu verkraftenden Übergangs vom sozialistischen System hin zu einer Marktwirtschaft als gleichberechtigte Bürger in Europa anerkannt zu werden. Die Vision Europa hat dem Balkan aus der Sinnkrise nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und den Erfahrungen mit dem nationalistischen Extremismus geholfen. Mehr noch als die Hoffnung auf wirtschaftliche Entwicklung hat sich die Vision Europa und damit der Wunsch nach Gleichberechtigung als die größte Triebkraft für die Demokratisierung erwiesen. Selbst einige nationalistische Parteien mussten sich beugen und auf den Zug Europa springen. Sie konnten die Stimmung in der Bevölkerung nicht ignorieren.

In allen Staaten sind die Regierungen – mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten – dabei, die von der EU geforderten Reformen in Staat und Gesellschaft umzusetzen. In Kroatien vollzog die ehemalige Nationalistenpartei HDZ schon vor Jahren einen dramatischen Positionswechsel. Die serbische Regierung arbeitet inzwischen mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zusammen. In Bosnien und Herzegowina wird angesichts des Drucks der EU eine Verfassungsreform begonnen, die auf die Einheit des in ethnisch definierte Territorien gespaltenen Landes abzielt. In Mazedonien hält der Frieden zwischen der slawischen Mehrheitsbevölkerung und der albanischen Minderheit vor allem durch die Perspektive EU-Beitritt. In Albanien hat die Regierung die chaotischen Zustände Ende der 90er-Jahre überwunden setzt nach und nach Reformen um.

Indem die EU mit Polizeikräften im Kosovo und Bosnien und Herzegowina präsent ist und in Bosnien sogar eine Armee geschaffen hat, präsentiert sie sich im Unterschied zu anderen beitrittswilligen Regionen auf dem Balkan sogar als militärische Macht. Der Balkan gehört zu Europa und fällt in die europäische Verantwortung, war bisher die unmissverständliche Botschaft der EU vor allem an die Adresse der USA und auch Russlands. Allerdings droht in der EU nach einem Scheitern der Verfassung die Gefahr, dass man sich von den sozialen und politischen Konflikten dieser Länder abwendet und das Augenmerk vermehrt auf eine Konsolidierung der vorhandenen Union richtet als auf eine erneute Erweiterung. Die europäischen Experten und Diplomaten vor Ort wissen aber sehr genau, welche Konsequenzen dieser Sinneswandel hätte. Wenn das Zuckerbrot Aussicht auf die Integration in die EU wegfiele, schmölze der Einfluss Europas wie das Eis in der Sonne.

Nachdem die EU im März entschied, Kroatien wegen der Gotovina-Affäre aus der Erweiterungsrunde mit Rumänien und Bulgarien auszunehmen, mehren sich in dem wirtschaftlich und politisch fortgeschrittensten Land schon die kritischen Stimmen gegenüber der EU. Zweierlei Maßstäbe dürften nicht gelten, Kroatien sei weiter entwickelt als Rumänien und Bulgarien, das Pro-Kopf-Einkommen beträchtlich höher. In Bosnien und Herzegowina rechnen EU-Diplomaten mit fatalen Folgen: Die nationalistischen Parteien könnten wieder Aufwind bekommen, alte Gegensätze aufbrechen, das Projekt Verfassungsreform scheitern. In Serbien würde die jetzt unter Druck geratene, sich während der Milošević-Zeit herausgebildete Struktur aus Mafia, Teile des Polizei-, Militär- und Justizapparats, wieder erstarken. Chauvinistische Strömungen und Parteien könnten wieder die Oberhand gewinnen. Die Spannungen um das Kosovo und Montenegro würden dort sogar zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen. Und nicht zuletzt, der fragile Frieden in Mazedonien wäre gefährdet. Auf dem Balkan entstünde ein sicherheitspolitisches Vakuum.

Die Strategie „Zucker-brot und Peitsche“ hatte trotz mancher Widersprüche beträchtlichen Erfolg

Die EU hat alle Warnungen vor einer überstürzten Osterweiterung in den Wind geschlagen – und darf vor den Folgen jetzt nicht verzagen. Der Westbalkan wird 2007 von EU-Staaten umgeben sein. Einen weißen Fleck und einen erneuten Unruheherd Balkan kann sich die EU aber nicht leisten, der käme noch teurer als das Festhalten an der bisherigen Politik. Das ist die Lehre aus den 90er-Jahren, als Europa während des Kroatien- und Bosnienkriegs schon einmal versagte. Jetzt auf halbem Wege stecken zu bleiben, könnte alles Erreichte zunichte machen. Und würde gerade die gutwilligen, demokratischen, für eine Bürgergesellschaft eintretenden Kräfte in diesem Raum nicht nur vor den Kopf stoßen, sondern sie sogar existenziell gefährden. Bundeskanzler Schröder hat bei seinem kürzlichen Besuch in Sarajevo die Perspektive EU für diese Länder nochmals betont, ohne konkret zu werden. Doch genau dies ist notwendig. Das fängt schon bei der Visafrage an. Die EU insgesamt und die Schengenstaaten sind aufgefordert, konkrete Zeitabläufe für jedes Land des Westbalkans zu benennen. Planungssicherheit ist für alle notwendig. Wenn die Bevölkerungen des Westbalkans wissen, woran sie sind, werden sie sogar bereit sein, Zeitverzögerungen hinzunehmen. Ohne dass die alten Kräfte wieder die Oberhand gewinnen.

ERICH RATHFELDER