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Archiv-Artikel

Bratwurst, quo vadis?

Wurstwüste Hauptstadt: Es gibt sie kaum noch, die Himmlischen von Rost und Grill

Schön knusprig möchte sie sein, von glühender Holzkohle gut durchgegrillt – aber noch nicht verbrannt. So, dass es beim Reinbeißen ein wenig knackt. Im aufgeschnittenen Brötchen muss eine richtige Bratwurst daherkommen, nicht auf einem Pappdeckel. Und es gehört ordentlich Senf drauf. Von einem Ende bis zum anderen, das ist Vorschrift. Aber nur mittelscharf, damit der feine Geschmack nicht von der Schärfe überdeckt wird. Schon beim Dranschnuppern wird klar: Ja, genau, das isses! Wenn der Duft der anständig gegrillten Wurst und geheimnisvoller Würzkräuter die Nase erreicht, ist das Himmelreich ganz nah.

So wie bei Henry. Montags und mittwochs baut er seinen großen Holzkohlegrill in der Berliner Kreuzbergstraße direkt vor „Getränke Hoffmann“ auf, an anderen Tagen steht er vor anderen Filialen. Jeden Morgen fährt Henry Gemenz von Roßlau in Sachsen-Anhalt mit seinem Kombi nach Berlin, um Original Thüringer Rostbratwurst, hausgemachte Buletten und andere Leckereien direkt vom Grill zu verkaufen. Das lohnt sich – trotz der Plackerei mit der Holzkohle. Denn Henry Gemenz macht seine Kunden glücklich: Der erste Biss. Traumhaft, wunderbar. Zergeht auf der Zunge. Das kühle Pils darf dazu nicht fehlen. Ein kräftiger Schluck, der nächste Biss. Schnell ist die Wurst gegessen, noch schneller die nächste bestellt. Genau so stellt man sich das Paradies vor.

Noch im vergangenen Sommer lohnte es sich, sonntags mit dem Fahrrad ins südliche Tempelhof zu fahren – weil es dort den Imbiss mit der besten Bratwurst weit und breit gab. Den Imbiss gibt es zwar noch, und der seltene Holzkohlegrill ist auch noch in Betrieb – aber offenbar hat der Griller noch vor Beginn der Saison den Wurstlieferanten gewechselt und verkauft jetzt fade Massenware, vorgebrüht. Weil’s billiger ist. Und schließlich hat auch der letzte Edelbratwurstgrill am Haus der Kulturen der Welt gleich hinter dem Kanzleramt plötzlich dichtgemacht.

Einzelschicksale? Keineswegs, besonders in der Großstadt Berlin war es schon immer schwierig, eine anständige Bratwurst zu bekommen. Zwar gibt es unzählige Imbissbuden, sie verkaufen die Curry mit und ohne, fragwürdige Buletten und fette Pommes frites – aber die Qualitätsbratwurst ist leider nur ganz selten anzutreffen.

Dieses Jahr fällt es besonders auf, denn mit der Fahrradsaison ist unweigerlich auch die Bratwurstsaison angebrochen. Und nun gibt es – außer Henrys Grill – fast kein Ziel mehr, das sich anzusteuern lohnt. Freizeit- und Radtourenkarten mit eingezeichneten Kelchen, die „Pause“ signalisieren sollen, sind nutzlos geworden: War es bislang stets wunderbar, mit der Bratwurstvision vor den Augen einfach von Kelch zu Kelch zu strampeln, erwartet einen heutzutage am Etappenziel nur noch stinkendes Frittenfett oder bestenfalls ein Ausflugslokal mit plärrenden Blagen.

Dabei ist es doch so einfach, und jeder gelernte Metzger ist in der Lage, eine anständige Bratwurst herzustellen. Deutschland ist ein Bratwurstland: Rheinische Bratwurst, Fränkische Bratwurst, Thüringer Rostbratwurst – und die Nordhessische. Die ist eindeutig die beste von allen, und jeder, der meint, dass die Original Thüringer die beste sei, hat die aus Hessen einfach noch nicht probiert. Thymian, Majoran, frisch gemahlener Kümmel – oder die Variante mit Muskatblüte, Koriander und Pfeffer. Jeder Metzgereibetrieb hat sein über viele Generationen gehütetes Geheimnis, und keine Wurst lässt sich mit der vom Metzger aus dem Nachbardorf vergleichen. Das muss unbedingt bewahrt werden.

Doch es passiert das genaue Gegenteil. Alteingesessene Familienbetriebe haben heute kaum noch eine Überlebenschance, auch Metzgereien nicht. Das ist überall so, nicht nur in Hessen. So schließt ein Betrieb nach dem anderen. Was bleibt, sind unansehnlich graue Fabrikwürste von denen keiner weiß, was drin ist. Mehl? Fein zerkleinerte Innereien? Oder noch Schlimmeres?

Bleibt nur die aufmerksame Suche nach den seltenen Highlights wie Henrys Grill – oder selber brutzeln. Einen Grill, der sich zusammenlegen und auf dem Fahrradgepäckträger transportieren lässt, und Holzkohle gibt es überall. Und ein paar wenige Berliner Metzger haben tatsächlich noch gute Bratwurst. Und wenn es etwas ganz Besonderes sein soll, wird halt direkt vom hessischen Metzger Heinrich Röse in Dodenhausen (Kellerwald) importiert. Oder bei Schlachter Wolf in Original-Thüringen bestellt. Passenden Senf gibt es im neuen Kreuzberger „Senf Salon“. Und beim spanischen Lebensmittelladen ein paar Straßen weiter liegt spanische Bratwurst in der Theke, echte Butifarra. Die muss auch ganz dringend mal probiert werden.

DIETER GRÖNLING