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Archiv-Artikel

Das sind doch keine Pappkameraden

Was kommt nach Rot-Grün? (1): Die Konservativen sind bei weitem nicht so aufgeklärt, wie sie sich gerne darstellen. Deshalb ist es nicht egal, wer regiert.Unsere Gesellschaften brauchen mehr Gleichheit. Daher brauchen sie Rot-Grün. Allerdings muss die Linke wieder streiten: für das gute Leben aller

VON ROBERT MISIK

Am Abend des 27. September 1998 war ich noch jünger und deshalb ein passabler Kletterer und saß auf einem Laternenmast vor der SPD-Baracke in Bonn. Da hatte ich einen guten Überblick und erstmals in meinem Leben das Gefühl, „ich“ hätte eine Wahl gewonnen. Das hatte gewiss etwas Exzentrisches: Als Österreicher ging mich der Regierungswechsel von Kohl zu Schröder-Fischer, der sich nach den ersten Hochrechnungen abzeichnete, doch eigentlich wenig an. Aber der Pathos des Augenblicks! Gerd und Oskar auf der Bühne, die das alles auch nicht fassen konnten – das Ausmaß ihres Sieges nämlich. Die plötzlichen Rufe: „Rot-Grün! Rot-Grün!“ Mit der Leidenschaft war das freilich schon damals so seine Sache.

Später am Abend, im Keller der niedersächsischen Landesvertretung, wo die Siegesfeier stieg, lag über der Szene doch auch stille Schreckstarre, die Furcht, jetzt wirklich das tun zu müssen, was man so lange gewollt hatte: regieren. Ob sie wirklich den inneren Habitus der Republik repräsentierten, „die Mitte“ in einem emphatischen Sinn, da waren sich die Akteure nämlich gar nicht so sicher. Hatten sie sich nicht immer als Außenseiter gefühlt? War diese Generation nicht in der Überzeugung groß geworden, dass die Welt schlecht ist – und die Guten in der Minderheit sind? Waren sie nicht nur zufällig an den Schalthebeln geraten? Noch an diesem Abend hatte sich eine Art Verzagtheit breit gemacht. Wenn also heute so viel die Rede davon ist, die „Leidenschaft“ für Rot-Grün sei verflogen, so soll doch auch erinnert werden, was damals im Leitartikel der taz stand: „Es wird eine rot-grüne Bundesregierung geben – aber sie ist kein Wunschkind.“ Und: „Kein Aufbruch, keine politischen Leidenschaften.“

Das war damals bereits die Grundstimmung. Rot-grünes „Projekt“-Gefuchtel war schon passé, als Rot-Grün in die Ministerbüros einzog. Ein bisschen war das gesund; ein bisschen war das auch das Problem. Was man anging, man verkaufte es als „nachholende Modernisierung“. Das klang so: „Die Gesellschaft“ habe sich längst modernisiert und sei über die Kohl-Regierung gewissermaßen sanft hinweggegangen. „Die Gesellschaft“ erscheint aus solcher Perspektive als schwer durchschaubarer, aber kräftiger Strom. Wichtig ist, was sich in deren Kapillaren tut; wer regiert, ist eigentlich unwichtig. Kanzler und Minister wirken so gesehen wie Pappkameraden, die glauben, sie haben Macht. Aber wir wissen es besser: Mächtig sind Strukturen; mächtig ist auch der Eigensinn der sozialen Biotope. Bis zu diesen dringt Regierungshandeln doch gar nicht vor. Am besten kommt das Argument übrigens, wenn man noch ein bisschen Globalisierungsanalyse dazurührt: Das bisschen Spielraum, was Regierungen noch haben, wird ihnen dann von den Märkten weggeschnürt.

So ist es vom pathoslosen Beginn der rot-grünen Regierung bis zum gerade so modernen, lässigen Abgesang ein viel kürzerer Weg, als die neuesten Adieu-Gesänge erscheinen lassen. „Merkel? Soll sie doch. Stoiber? Kann man überleben. Wulff? Den sowieso“, fasste Jan Feddersen an dieser Stelle das „Murmeln in der alternativen Szene“ zusammen. Das ist, wie gesagt, nicht gar so neu. Die Gesellschaft bestimmt die Gesellschaft, wer regiert, ist ja egal. Systemtheorie für Faule kann man das auch nennen. Ein gutes Argument für Indifferenzen jeder Art. So theoretisiert eine Szene die eigene Gemütlichkeit.

Man muss freilich von sehr freundlichen Gesellen regiert werden, um auf solche Gedanken zu kommen. Ich, beispielsweise, werde von einer Koalition regiert, deren Kanzler Schüssel heißt und dessen Koalitionspartner Jörg Haider. Kurzum: Ihr Murmler, kommt mal nach Österreich – oder nach Italien – und dann sagt noch mal, langsam und ganz, ganz deutlich: „Es ist egal, wer regiert.“ Ich wette, das schafft ihr nicht.

Wer älter und weiser wird, nimmt meist an, seine einstigen Gegner wären auch älter und weiser geworden. Deswegen glauben manche einstige Linksalternative, die weit in die Mitte gedriftet sind, die Rechte ist heute auch moderat, um nicht zu sagen: zivilisiert. Nie und nimmer würden moderne Christdemokraten doch gegen Zuwanderer hetzen, dass sie mit Gaskammerleugnern koalieren, kann man sich doch nicht vorstellen (in Österreich tun sie’s) und dass es ihnen an Respekt vor demokratischen Regeln gebricht, das wollen wir doch wirklich nicht annehmen – dass sie etwa ihre Parteikassen mit Schwarzgeld füllen, weil ihnen jedes Mittel recht scheint, damit Sozis und linke Radaubrüder nicht an die Regierungsstellen kommen; dass sie die verschobenen Millionen zu Kampagnen gegen Einwanderung nützen, ist natürlich ganz und gar undenkbar. Wir sind überzeugt, die Konservativen seien heute auch aufgeklärte Leute mit gepflegten Manieren – und müssen uns regelmäßig enttäuschen lassen.

Ich fürchte also: Sie sind wie eh machtgierige, böse Typen. Wenn ich den Koch im Fernsehen sehe, habe ich eigentlich keinen Zweifel daran. Natürlich können sie im Einzelfall auf derart smarte Weise öde sein, dass man ihnen nichts Übles zuzutrauen vermag. In Sachsen bekommen die NPD-Anträge regelmäßig mehr Stimmen im Parlament, als die Neonazis Abgeordnete haben. Ja, wo kommen denn die Stimmen her? Aznar, Schüssel, Berlusconi? Lügner, Trickser, Diebe, gewiss, aber Wesen vom anderen Stern. Unsere Angela ist eine liebe. Die wird mit Westerwelle, Koch, Beckstein und einem Ersatz-Merz einfach in der „neuen Mitte“ weiterregieren. Ganz ehrlich, Freunde: Gott schütze euch vor bösen Überraschungen.

Natürlich fehlt es dem rot-grünen Lager schon lange an Elan. Die Zeit „harter Entschlossenheit“, „bedenkenloser Wendigkeit“ (Franz Walter im Spiegel) ist vorbei. Energiezufuhr ist bitternötig. Aber die depressive Lässigkeit, das pubertantenhafte „Mir doch egal“, diese eskapistische Pose verdoppelt das Problem, dessen Lösung es zu sein vorgibt. Wem die politischen Überspannungen seiner Jugendzeit heute peinlich sind, wer Politik nicht mehr so wichtig nimmt, bitte schön, ist ja nicht verboten. Aber dann, bitte schön auch, das nicht noch einmal theoretisieren, das schräge Desinteresse nicht zur neuesten, originellen, exzentrischen Haltung adeln.

Rot-Grün muss bleiben. Das Bündnis, sosehr es zum Management des Stückwerks verkommen sein mag, repräsentiert noch immer Emanzipationsaspirationen und Modernisierungskulturen, die nicht verallgemeinert, sondern weiter umstritten sind. Es ist wie immer mit dem vertrackten Ding „Repräsentation“. Es ist nicht nichts, nicht bloß leerer, unbedeutender Widerschein; aber der Repräsentant ist auch nicht das Repräsentierte.

Unsere Gesellschaften brauchen mehr Gleichheit – und die Linke braucht eine Sprache, mit der sich für mehr Gleichheit streiten lässt. Wir haben uns Begriffe erkämpft, um für das Recht auf Differenz einzutreten, und die Sprache verloren, um für ein gutes Leben aller zu streiten. Und für Sinn jenseits der Marktzone. Aus Angst vor der Pathosfalle sind wir supercool geworden – auch eine Sackgasse. Ich will damit nicht viel mehr sagen als zweierlei: Es gäbe schon eine Art Arbeitsprogrammatik, für die es sich lohnen würde, Rote und Grüne wieder in Bewegung zu bringen; und es ist nicht so, dass unsereins mit den Dilemmata, in denen Rote und Grüne stecken, nichts zu tun hat.

Und weil’s mühsam ist, da rauszukommen, soll die Merkel ran? Ein wirklich kleines Heldentum.

Robert Misik, 39, lebt als taz-Autor in Wien