: Die Entmachtung der Direktoren
SCHULE Indiens Schulsystem soll generalüberholt werden. Doch am Faktor Kinderarbeit wird das auch in Zukunft nicht viel ändern, solange das Wohlstandsgefälle weiter wächst
■ Schulsystem: Es ist stark britisch geprägt. Die Kinder tragen Schuluniformen und besuchen zunächst die Primary Schools, die Grundschulen entsprechen. Nach der fünften Klasse folgen die dreijährigen Mittelschulen, danach besuchen die Schüler die Secondary Schools. Etwa die Hälfte der Kinder verlässt die Schule nach der fünften Klasse.
■ Gebühren: Staatliche Schulen sind offiziell kostenfrei; oft fallen aber Aufnahmegebühren an, die abgeschafft werden sollen.
■ Klassengröße: Die Größe der Klassen soll begrenzt, das Niveau der Ausbildung an den staatlichen Schulen soll erhöht werden. ZAS
AUS DELHI SASCHA ZASTIRAL
Zigtausende Autos, Busse, Motor- und Fahrräder drängeln den ganzen Tag lang lärmend über die breite Hauptverkehrsader im Zentrum von Delhi. Vor einer großen Straßenüberführung direkt neben einem der wohlhabendsten Viertel der Stadt gehen Straßenkinder im Stau von Auto zu Auto und halten teure Hochglanzmagazine in die Höhe. Es ist beinahe 40 Grad heiß, die staubige Luft ist durchsetzt von beißendem Abgasgeruch. Die meisten Autopassagiere, viele sind mit dem eigenen Fahrer unterwegs, schauen gelangweilt weg.
Diese Szene im Zentrum der indischen Hauptstadt verdeutlicht, wie frappierend die Armut in dem 1,2-Milliarden-Einwohner-Land immer noch ist. Von einem geregelten Schulalltag, wie ihn in Europa jedes Kind kennt, sind Delhis Straßenkinder unendlich weit entfernt. Doch nun hat das Unterhaus des indischen Parlaments in der vergangenen Woche ein neues Gesetz verabschiedet, nach dem alle Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren die Schule besuchen sollen. Die Schulpflicht gilt ab spätestens 2012.
Vor allem die Bundesstaaten werden in die Pflicht genommen, in den Bau sogenannter Nachbarschaftsschulen zu investieren. Die bisher gültige Praxis von Auswahlverfahren und – häufig illegalen – Aufnahmegebühren an staatlichen Schulen wird untersagt. Privatschulen sollen ein Viertel ihrer Schulplätze Kindern aus benachteiligten Familien zur Verfügung stellen.
Die Gesetzesinitiative geht auf das Jahr 2002 zurück. Damals schrieb die Regierung in einer Verfassungsänderung das Recht auf Bildung fest. Umgesetzt werden sollte es innerhalb eines „Zeitraums von zehn Jahren“. Doch viel zu lange, schreibt P. Radhakrishnan, Professor am Institut für Entwicklungsstudien an der Universität Chennai, habe die Politik viel zu wenig für die Bildung getan: „Diese grobe Vernachlässigung erklärt Indiens Rückständigkeit in Sachen Bildung.“ Vor diesem Hintergrund sei die Einführung des Gesetzes „von großer nationaler Wichtigkeit“.
Ein Drittel der Bevölkerung Indiens ist unter 18 Jahre alt – das sind rund 400 Millionen Menschen. Von diesen besuchen offiziell 5 bis 12 Millionen überhaupt keine Schule, Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass es mehr als 30 Millionen sind. Dennoch hat sich in den vergangenen zehn Jahren bereits einiges getan: Dank der Arbeit von Hilfsorganisationen und Bildungsinitiativen einzelner Bundesstaaten werden heute neun von zehn Kindern eingeschult, schreibt die Weltbank in einem Bericht.
Doch jedes zweite Kind scheidet wieder aus der Schule aus, bevor es die fünfte Klasse erreicht. Vier von zehn Erwachsenen können weder lesen noch schreiben. Daher liegt Indien im aktuellen Education for All Development Index der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) unter insgesamt 129 Staaten auf dem 102. Platz, hinter Nicaragua und Kenia. Danach folgen nur noch die ärmsten Staaten Zentralafrikas. Der Index bewertet die Verbreitung und die Qualität von primärer Schulbildung, das Geschlechtergleichgewicht und die Alphabetisierungsrate bei Erwachsenen.
Lehrer fehlen häufig
Das neue Gesetz setzt zu einer Generalüberholung des Schulsystems an. Bislang gehört es an den staatlichen Schulen zum Alltag, dass Schulklassen überfüllt und die Lehrer schlecht ausgebildet sind und häufig fehlen. Ein Viertel aller Unterrichtsstunden ist laut einem Bericht der Weltbank im Jahr 2004 ausgefallen.
Daher sollen Beamte in Zukunft kontrollieren, dass keine Kinder von Schulen abgewiesen werden und Lehrer zur Arbeit erscheinen. Die bislang mit autokratischen Befugnissen ausgestatteten Schulleiter werden weitgehend entmachtet: Sie dürfen nicht mehr über die Aufnahme von Schulkindern entscheiden. Verwaltungsräte aus Eltern, Lehrern und Beamten sollen überwachen, dass es bei der Vergabe der Schulplätze mit rechten Dingen zugeht.
Bislang gleicht der Versuch, in einer indischen Großstadt einen Schulplatz an einer staatlichen Schule zu ergattern, häufig der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. „Es war extrem schwierig“, sagt Rekha Abraham. Die 38-Jährige sitzt im Wohnzimmer ihrer Dreizimmerwohnung im Jangpura, einem Stadtteil von Delhi, in dem vor allem die Mittelschicht lebt. Ihr Sohn Tejas, drei Jahre und neun Monate alt, tobt durch das Zimmer. „Man muss jetzt schon einen Platz in einer Vorschulklasse finden. Später hat man kaum noch eine Chance“, erklärt Rheka. Vier Monate haben sie und ihr Mann Jitendra Nath gesucht. Oft hätten sich um 100 Plätze 3.000 Familien und mehr beworben. „Wir haben sogar daran gedacht, in einen anderen Stadtteil umzuziehen, wo es mehr Schulen in den Nähe gibt“, sagt Rekha Abraham.
Besonders heikel seien die Vorstellungsgespräche gewesen, die nach dem neuen Gesetz vollständig entfallen sollen. „Da müssen die Eltern dem Schulleiter alle möglichen Fragen beantworten. Versteckt sind die natürlich daran interessiert, wie viel die Eltern verdienen.“ Besonders schockiert hat sie die Frage eines Schulleiters, ob ihr Sohn denn schon „unter Kontrolle“ sei, erzählt Abraham. Denn Tejas ist ein Problemkind: Der Junge weist Anzeichen von Autismus auf. Das habe sämtliche Schulleiter abgeschreckt. Erst an einer christlichen Schule einige Stadtteile weiter hat die Familie Glück gehabt und nach mehreren Monaten einen Schulplatz für ihren Sohn gefunden. Geld musste die Familie nicht bezahlen.
Für Kinder wie Tejas wird sich die Lage nach dem neuen Gesetz nur bedingt verbessern, die Aufnahme behinderter Kinder ist für die Schulen nicht verpflichtend. Bildungsminister Kapil Sibal versuchte Kritik daran mit dem Hinweis zu entkräften, es würden „spezielle Schulen“ für behinderte Kinder eingerichtet.
Doch selbst eine umfassend durchgesetzte Schulpflicht dürfte das Hauptproblem in Indiens Gesellschaft kaum ändern: das riesige Wohlstandsgefälle, das immer stärker wird. Das neue Gesetz garantiert lediglich einen Schulplatz bis zur achten Klasse. Danach können staatliche weiterführende Schulen wieder Aufnahmegespräche führen. Privatschulen dürften sich der Schüler, die sie aufnehmen mussten, in den meisten Fällen entledigen.
Ein weiteres großes Problem spricht das Gesetz überhaupt nicht an: Zwischen den privaten und den staatlichen Schulen klafft ein immenser Qualitätsunterschied. Während die Privatschulen in der Wissensvermittlung mit europäischen Schulen durchaus mithalten können, fällt das Niveau an öffentlichen Schulen oft drastisch ab. Forscher der US-Universität Harvard haben in einer Studie 6.000 indische Schüler befragt. Nach neun Jahren Schulbesuch haben 30 bis 40 Prozent der Kinder die internationale Messlatte für mathematisches Basiswissen nicht erreicht, fanden die Forscher heraus.
Demgegenüber stehen mehr als 300 Universitäten und 15.000 Hochschulen, die jedes Jahr etwa doppelt so viele Ingenieure hervorbringen wie die Universitäten und Hochschulen an den USA. Zwar erhalten Angehörige sozial benachteiligter Gruppen über ein staatliches Reservierungssystem bevorzugt Ausbildungsplätze an staatlichen Hochschulen, doch ob sie überhaupt dorthin gelangen, ist eine andere Frage.
Ein kürzlich von den Vereinten Nationen veröffentlichter Bericht hat ergeben, dass mittlerweile 40 Prozent aller unterernährten Kinder unter fünf Jahren auf der Welt in Indien leben. Die Zahl der Menschen in Indien, die an Hunger leiden, nimmt seit 1991 kontinuierlich zu. Heute sind es bereits 200 Millionen. Die Weltbank geht davon aus, dass 42 Prozent der Menschen in Indien von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag leben müssen – während andererseits Indiens Milliardäre inzwischen die reichsten in ganz Asien sind.
Daher ist es fraglich, ob 2012, wenn das Gesetz umgesetzt sein soll, tatsächlich alle Straßenkinderarbeiter von den Hauptverkehrsadern der Großstädte verschwunden sein werden und eine Schule besuchen. Denn Indien hat die größte Zahl der Kinderarbeiter weltweit: 17 Millionen. Praktisch keines dieser Kinder besucht eine Schule. Ein Gesetz gegen den Einsatz von Kinderarbeit in ausgesuchten Bereichen der Wirtschaft, das 1986 erlassen wurde, hat nur wenig am Los dieser Kinder geändert.
„Es gibt Vorhersagen, dass weltweit weitere 50 bis 90 Millionen Menschen extrem armutsgefährdet sind“, warnte kürzlich Koichiro Matsuura, Generaldirektor der Unesco. Erwiesen sei, dass in wirtschaftlichen Krisenzeiten die Kinderarbeit zunimmt, weil Eltern ihre Kinder dann aus der Schulen nehmen und arbeiten schicken. Für Matsuura ist klar: „Es gibt keine bessere Investition in die Gesellschaft als Bildung.“