PUTIN NUTZT DIE GEDENKFEIERN, UM SEINE POLITIK ZU RECHTFERTIGEN : Der vergessene Krieg
Niemand will Russland als Nachfolgestaat der UdSSR den rechtmäßigen Ruhm des Sieges im Zweiten Weltkrieg streitig machen. Und wer wollte die unbeschreiblichen Gräuel leugnen, die die verbrecherische deutsche Kriegsmaschinerie unter den Völkern der Sowjetunion angerichtet hat. Die Anwesenheit der führenden Staatschefs der Welt bei den Gedenkfeiern unterstrich dies nachdrücklich. Und doch – die Vehemenz, mit der Wladimir Putin die Rolle der UdSSR herausstrich, erweckte den Anschein, als sei er sich des aufrichtigen Gedenkens der Partner nicht wirklich sicher.
Ein trügerischer Eindruck. Das ewige Rezitativ verfolgt das Ziel, Fragen nach den dunklen Seiten des Sieges zuvorzukommen. War die Oktoberrevolution die Legitimation kommunistischer Herrschaft, so übernimmt diese Funktion nun der „Große Vaterländische Krieg“ im postsowjetischen Russland. Als ideologisches Fundament von Putins Herrschaft legt es die Sicht auf Restbestände totalitären Gedankenguts frei, die auch in seiner Rede an die Nation anklangen: Der Zusammenbruch der UdSSR sei die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, meinte der Kremlchef.
Die Balten, Moldawier, Westukrainer, die Völker Zentralasiens, Georgiens und Osteuropas sind anderer Meinung. Einige blieben der Feier fern. Nicht weil sie den sowjetischen Blutzoll leugnen. Sie spüren aber, dass der alte imperiale Reflex es bewusst darauf anlegt, sie zu Staaten zweiter Klasse herabzustufen. Diese Völker haben begriffen, dass der „Triumph des Sieges“ im Zweiten Weltkrieg von Moskau instrumentalisiert wird, um den Einsatz von Gewalt in Tschetschenien zu rechtfertigen. Dort wütet ein Krieg, den Europa vergessen hat und an den es den Kriegsherrn Putin hätte erinnern sollen. Gedenken heißt auch aus der Geschichte lernen, sonst gerät es zur Heuchelei. Heute findet in Moskau ein EU-Russlandgipfel statt, der einen Anlass böte, Tschetschenien zu thematisieren. Doch dazu wird es nicht kommen. Denn, so triumphierte der Kreml letzte Woche, in den Beziehungen zur EU spiele Tschetschenien überhaupt keine Rolle mehr. KLAUS-HELGE DONATH