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Archiv-Artikel

Dann schaut Günter Netzer vorbei

DOKUMENTARFILM „Versicherungsvertreter“ begleitet den Unternehmer Mehmet E. Göker

„Ich hab so ein krasses Leben“, entfährt es Mehmet E. Göker, als er seinen dunkelblauen Ferrari vor der freudlosen Kasseler Mietskaserne abstellt, in der er aufgewachsen ist. Man kennt diesen szenischen Aufbau aus vielen Filmen, die „erstaunliche Karrieren“ nachvollziehen und dann ein Evidenzbild für den Weg benötigen, den der Held zurückgelegt hat. Vor der Kulisse bescheidener Verhältnisse hebt sich das schrille Statussymbol besonders ab.

In Klaus Sterns sehenswertem Porträtfilm „Versicherungsvertreter“ fällt die Szene aber nicht weiter auf. Ständig muss hier krasse Zeichenhaftigkeit dokumentiert werden, weil der Protagonist keinen anderen Selbstdarstellungsmodus kennt. Bizarr an dieser Figur ist vor allem, wie jede Geste derart stur ins Klischeeregister des Parvenüs kippt, dass zwischenzeitlich der Verdacht aufkommt, Göker existiere nur als Performancekunstprojekt. Noch befremdlicher ist die ökonomische Rationalität hinter Gökers Karriere. Die vorgeführten Privatpathologien verdanken sich dem Ertrag einer Methode, die von Versicherungskonzernen wie Allianz, Axa und Hallescher finanziell entlohnt wurde. MEG hieß die nach Gökers Initialen benannte Firma, mit der der Versicherungskaufmann bereits drei Jahre nach der Unternehmensgründung 2006 einen Umsatz von 65 Millionen Euro erzielte. 1.400 Mitarbeiter verkauften für ihn Policen privater Krankenversicherungen, bekamen als telefonierende Drückerkolonne bis zu 8.000 Euro Provision pro Neukunden-Akquise.

Die „Kundenberatung“ von MEG grenzte an Betrug, die Quoten waren jedoch phänomenal. Entsprechend bereitwillig ließen sich Versicherungsmanager mit Göker ablichten, auch wenn seine Vermittlungspraxis fragwürdig war und die Stornierungen zunahmen, ohne dass MEG entsprechende Rücklagen für die Teilrückzahlung der Provisionen gebildet hätte (weshalb das Unternehmen heute insolvent ist). Günter Netzer schaut in den guten Tagen dann schon mal haifischgrinsend in der Firmenzentrale vorbei, und natürlich ist Wulff-Intimus Carsten Maschmeyer als Experte in Sachen mieser Maklerei nicht weit, wie Erinnerungsfotos belegen.

„Versicherungsvertreter“ ist auch das Porträt eines Selfmade-Aufsteigers, dessen egomanischer Auftritt momenthaft als Überkompensation anhaltender Exklusionserfahrungen lesbar wird. Wenn der Ferrari-Händler vor der polierten Espressomaschine zu bedenken gibt, dass seine Kunden die Freude am Sportwagen fast verloren hätten, als plötzlich auch „der Türke“ einen fuhr, handelt es sich wohl um keine Einzelmeinung.

Interessanter als Gökers Fall – die Staatsanwaltschaft ermittelt noch wegen Insolvenzverschleppung und Untreue, er selbst flüchtete in die Türkei – ist, wie Stern Ausschnitte einer testosterongetränkten Unternehmenskultur montiert, deren Konkurrenzsystem wie eine Parodie auf ultraprimitive Spielarten neoliberaler Unternehmensführung wirkt. Bei internen Motivationsveranstaltungen traktiert Göker seine Mitarbeiter mit schlichtesten Sprüchen zwischen wilden Beschimpfungen und inbrünstigen Lobpreisungen, wobei Letztere noch schwerer auszuhalten sind. Auf lächerlich pompösen Galaveranstaltungen in der Kasseler Stadthalle scheppert „Carmina Burana“, wenn der Chef die Bühne betritt, als sei er Putin.

Erfolgreiche Mitarbeiter müssen hier mit einem „Heiratsantrag“ Gökers rechnen: „Ich würde mich freuen, wenn du mein Mann wirst, trag diesen Siegelring aus echtem Silber, mit dem MEG-Logo, dein Leben lang.“ Das Entsetzen in den Augen der Angestellten ist unübersehbar, aber auch, wie ihre Scham im Zaum gehalten wird von der Aussicht, weiterhin ein profitierendes Rädchen im Getriebe dieser Geldmaschine zu sein.

SIMON ROTHÖHLER

■ „Versicherungsvertreter“. Regie: Klaus Stern. Dokumentarfilm, Deutschland 2011, 79 Min.