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Archiv-Artikel

Unter der Lupe des Biografischen

Bilder bleiben nicht Dokument, sie müssen immer wieder angeeignet werden: Die 51. Kurzfilmtage Oberhausen

Oberhausener Internationale Kurzfilmtage in der Auflage Fünfzig plus eins. Nach den prunkvollen Geburtstagsfeierlichkeiten des vergangenen Jahres freute sich ein Festredner der Eröffnungsveranstaltung auf die „Rückkehr zur Normalität“, auf eine erneute Konzentration auf die Filme. Die Festivalmacher haben diesem Wunsch entsprochen, indem sie ihn unterlaufen haben. Denn „Normalität“, Routine kann man in Oberhausen gerade nicht erwarten – dafür ist die Bandbreite des Gezeigten immer wieder zu vielfältig.

Als „eine Art Miniatur gesellschaftlicher Kommunikation“ wollte Festivalleiter Lars Henrik Gass die Kurzfilmtage verstanden wissen. Das große Ganze, die Verständigung einer Gesellschaft über sich selbst im Brennspiegel der „kleinen“ Form zu verdichten, darin besteht in der Tat die Stärke des Kurzfilms. Das zeigte sich an einem der auffälligsten Trends im diesjährigen Programm: in der Lupe des Biografischen, in der Ausschöpfung des Privaten als Material und Ausgangspunkt. So erzählten Filme in melancholischen Bildern das Schicksal von „Großmutters Birnbaum“, beschrieben in vorsichtiger Annäherung „Drei Versuche über meinen Vater“ oder betitelten sich nüchtern „Home Video Argentina“.

Der Rückgriff aufs Eigene eröffnete dabei manche überraschende Perspektive auf die mannigfachen Verflechtungen, die die persönlichen Geschichten an „die“ Geschichte zu binden vermögen. Die Bewegung konnte einerseits von innen nach außen führen, etwa in „Abba“ von Yael Ingber, der als Familiendrama im Kleinen beginnt, als Besuch der Tochter bei ihrem Vater, der Frau und Kinder vor Jahren sitzen ließ. Die Wunden sind noch nicht verheilt, die Tochter voller Vorwürfe. Man schwankt zwischen Anteilnahme und Ablehnung, schlägt sich mal auf die Seite der Tochter, dann des Vaters – bis nach und nach die Hintergründe Kontur gewinnen und deutlich wird, dass sich hier nichts auf einen „privaten“ Konflikt reduzieren lässt. Der Vater war Offizier der israelischen Armee, heute nennt er Scharons Politik Staatsterrorismus und sagt, es sei legitim, auf Siedler zu schießen, während seine Tochter demnächst den Wehrdienst antreten wird.

Oder die Bewegung verlief umgekehrt, von außen nach innen, von der Welthistorie zum privaten Familienalbum. So konnte „Erinnerungen“ von Sylvia Schedelbauer über den Großvater, der vor Stalingrad gefallen ist, nurmehr in merkwürdiger Distanz sprechen – „wie aus einem Geschichtslehrbuch“ erschienen der Filmemacherin die vergilbten Aufnahmen ihres Wehrmachtsopas. Die Schrecken des Krieges rücken, allen Erinnerungsbemühungen dieser Tage zum Trotz, offenbar in zunehmende Distanz, sind in Schedelbauers Film nur mehr abstrakter Ausgangspunkt für eine Erkundung einer jüngeren Geschichte, die sich rasch auf die eigenen Eltern konzentriert.

Vielleicht hat die Experimentalfilmerin Abigail Child in ihrem neuesten Werk den eindringlichsten Kommentar auf dieses Dilemma gegeben. In „The Future is Behind You“ konstruierte sie aus found footage eine fiktionale Familiengeschichte aus dem jüdischen Leben der Dreißigerjahre. Das anonyme Material, dessen authentische Bezüge verloren gegangen sind, wird durch Montage und neu eingespielte – deutlich als fake markierte – Tonspur zur falschen Erinnerung an ein echtes Leben, das es einmal gab. Bilder bleiben nicht von sich aus Dokument, sie müssen immer wieder angeeignet werden.

Eine Aufgabe, die gerade der experimentelle Kurzfilm erfüllen kann. Filmfestivals nicht nur in Oberhausen bieten ihm dafür ein geeignetes Forum. Nur, wie lange noch? Festivalleiter Gass, der bereits Anfang des Monats in einem offenen Brief an die Düsseldorfer Staatskanzlei seine „große Sorge“ über Pläne des Ministeriums zu einer „Zentralisierung“ von Filmfestivals in NRW bekannt gab, äußerte in seiner Eröffnungsrede weitere deutliche Kritik an aktuellen Entwicklungen in der Kulturpolitik und warnte vor einer unkritischen Übernahme von Begriffen wie „Optimierung“ oder „Gießkannenprinzip“. Man müsse über Vor- und Nachteile jedes Fördermodells vorurteilsfrei reden.

DIETMAR KAMMERER