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Archiv-Artikel

Traumlogik der Wertedebatte

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Den Wertewandel genau zu beobachten, fehlen uns die Instrumente. Also redet man einfach von Verfall

Schülerinnen und Schüler brauchen Kenntnisse über Ethik, Philosophie und Religion. Wer sich in einer pluralen und globalisierten Welt orientieren will, braucht verlässliche Wertmaßstäbe … Aufruf der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und des Erzbistums Berlin, zahlreiche Unterzeichner. Anzeige in der Berliner Zeitung vom 30. 4./1. 5. 05

In Berlin tobte gerade ein kleiner Kulturkampf: ob es ein säkulares Wahlpflichtfach Wertekunde geben soll oder einen konfessionellen Religionsunterricht – der Streit drang durch bis in die ganze Republik. Überhaupt sind Werte aktuell. Der Tod von Karol Wojtyła sollte uns wieder mal mahnend in Erinnerung rufen, warum wir nicht mehr alle den Wertsetzungen der katholischen Kirche anhängen. Und mit Ratzingers Wahl sah es kurzfristig so aus, als könnte es zu einer solchen massenhaften Rückkehr kommen; jedenfalls ließ sich das ein bisschen anträumen.

„Werteverfall“ gehört zu den Standarderklärungen, wenn irgendein scheußliches Verbrechen die Republik erregt, und ein Theaterregisseur, in seiner Jugend dem Linksradikalismus verpflichtet, wusste neulich, anlässlich des neuen Stücks von Botho Strauß, dass wir uns alle nach Werten sehnen – erfolglos, versteht sich. Man weiß nicht so richtig, was dem Theaterregisseur dabei vor Augen stand. Dass er den einstigen Glauben an den Sozialismus längst verloren hat?

Der Streit um das Berliner Schulfach folgte einer merkwürdigen Traumlogik. Sie ist in dem Zitat oben genau zu erkennen. Irgendwann ging es nicht mehr darum, welches Fach mit welchen Themen unterrichtet wird, plötzlich schaute es aus, als würden in dem wie immer gestalteten Fach selber Werte unterrichtet. So wie man in der Schule Rechnen lernt oder Englisch, so soll man dort dann den Wert von Toleranz und Friedfertigkeit erkennen, Dogmatismus und Kriegslust verwerfen lernen. Manche würden auch gern den Glauben an Gott als höchsten Wert unterrichten, was bekanntlich seit 2.000 Jahren misslingt.

Folgten die gewalttätigen Neonazis den richtigen Werten, sagt diese Traumlogik, wären sie keine gewalttätigen Neonazis; ein entsprechender Unterricht könnte fanatisierte Jungs aus islamischen Familien den Respekt gegenüber der modernen Frau lehren. Wir brauchen uns nur noch darauf zu einigen, welche Werte als verpflichtend gelten sollen, und dann geht’s los. Ebenso sah es später der Innenminister, als irgendeine dieser Umfragen erbrachte, dass der junge Mann in Deutschland sich nicht nach Vaterschaft sehnt – „Wertedebatte!“, forderte der Innenminister und versprach sich von dieser Debatte augenscheinlich eine Implementierung des Kinderwunsches im widerstrebenden Jungmännermaterial. Gleich heißt er die Liebste auf die Pille verzichten, benutzt nie mehr ein Kondom und führt jeden Geschlechtsverkehr ergebnisoffen durch, ganz wie es Wojtyła befahl. Das könnte doch zugleich das demografische Problem in Deutschland …

Der Traumgedanke ist ebenso einleuchtend wie unsinnig. Er hat was von einem Taschenspielertrick, ja, wenn alle Leute das Richtige wollten, wäre das Falsche über Nacht verschwunden. Uns fehlt ein durchgreifender Ethikunterricht; dann gäbe es keine Drogensucht und keine Graffiti, und abends läsen wir, statt Bier zu trinken und fernzusehen, ein gutes Buch bei einem Gläschen Rotwein. Eine politische Verirrung wie Rot-Grün verschwände von selbst, und die CDU/CSU hätte wieder die absolute Mehrheit, wie sie ihr zusteht.

Aber Werte lernt man nicht wie Englisch oder das kleine Einmaleins. Jeder kann das an sich selbst leicht überprüfen: Was man wahrhaft für lieb und wert hält, das ergibt sich aus ganz undurchsichtigen Lebensvollzügen; manche Überzeugungen scheinen ewig zu dauern, andere ändern sich rasch. Mir zum Beispiel ist Fußball vollkommen gleichgültig, ich hege eine solide Abneigung gegen den Präsidenten Bush, und wenn ein sog. Hassprediger in seiner Moschee erklärt, die Deutschen stinken, muss ich lachen, statt in Wut zu geraten.

In der Schule habe ich diese Werte nicht gelernt – es ist die Frage, ob man solche Einschätzungen und Reaktionen überhaupt aus Lernprogrammen ableiten kann. In der Schule wird alles zu Schulstoff: Sie kann mir Französisch beibringen, aber ob ich es mag, kann sie mich nicht lehren. Dass die angloamerikanische Zivilisation für unsereinen von größerem Wert ist als die, sagen wir, rotchinesische; dass manche Leute lieber ins Kino gehen als ins Konzert, das ist zwar nicht zu übersehen. Aber wer diese Geschmacksurteile respektive politischen Meinungen respektive Vorverständnisse, die gar nicht zur Debatte stehen (wer kennt die rotchinesische Zivilisation gut genug, um hier eine Wahl zu treffen?), wer solche komplexen Bildungen aus den Werten ableitet, denen die Leute folgen, und darüber grübelt, wie man sie verändert, gerät in ein gründliches Durcheinander.

Der Trick ist:Wenn alle Leute das Richtige wollten, wäre das Falsche über Nacht verschwunden

Das Berliner Schulfach wird deshalb keine Werte lehren, sondern das Diskutieren darüber, was man alles für von höchstem Wert halten kann, Monotheismus und Atheismus, Frauenverschleierung und freie Liebe – bestimmt macht das den jungen Menschen zwischen 12 und 17 mächtig Spaß. Und in den Religionsunterricht dürfen Eltern ihre Kinder die ganze Zeit schon schicken. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die Kirchen in Deutschland zu viel politischen Einfluss haben. Dass sie den Hort der Werte bilden, während draußen nur moralisch geschlampt wird, ist jedenfalls Anmaßung.

Eine andere Variante des Wertediskurses kam anlässlich des Papsttodes respektive der Papstwahl wieder ins Spiel: dass, wer nicht den römischen Vorgaben folgt, überhaupt keine Werte hat. Bekanntlich waren für den Papst Wojtyła unter anderem die Abtreibung und der homosexuelle Geschlechtsverkehr Zeugnisse des Bösen, und der Papst Ratzinger wird daran nichts ändern. Überhaupt sprach sich der neue Papst gegen den Zeitgeist aus – als wären Abtreibung und Homosexualität Erfindungen des späten 20. Jahrhunderts – und die neokatholischen Frömmler im Feuilleton (im Feuilleton!) durften feuchte Augen kriegen, der Glaube zeigt der Vernunft ihre Grenzen auf und so. Im Übrigen ist die Kirchengeschichte voll von solchen päpstlichen Einschätzungen und ihren späteren Revisionen (wie man im Religionsunterricht lernen kann). In 200 Jahren bittet der Papst die Schwulen um Vergebung und hält eine ganze Serie von Messen für die Aidstoten ab, die seine Vorgänger auf Kondome verzichten hießen.

Hier herrscht ein Denkmuster, dem auch die Rede vom Werteverfall verpflichtet ist. Die Dinge ändern sich, wie man so sagt, Einschätzungen und Reaktionen sind selten automatisch auf Dauer gestellt. Solche Veränderungen, den Wertewandel genau zu beobachten, fehlen uns die Instrumente. Also redet man bequemerweise von Verfall. Wir bräuchten mal jemanden, der Norbert Elias’ Zivilisationstheorie fortlaufend auf den neuesten Stand bringt. Stattdessen bedient jeder nach Kräften die Grundmuster des Kulturpessimismus. Weder Debatten noch Klagen generieren Werte; sie sind doch längst da und wirken.