Äthiopiens langer Weg in die Demokratie

In der Hauptstadt des traditionell autokratischen Äthiopien herrscht vor den Parlamentswahlen am kommenden Sonntag ein ungewohnt liberales Klima. Aber auf dem Land, wo die meisten Einwohner leben, ist die neue Freiheit noch nicht angekommen

von DOMINIC JOHNSON

Blickt man auf die Hauptstadt, ist Äthiopien auf dem Weg in eine lebhafte Demokratie. Am vergangenen Samstag brachte die Regierungspartei in Addis Abeba über 100.000 Menschen auf die Straße, am Sonntag legte die Opposition mit über 200.000 nach. Auf der Regierungskundgebung warf Premierminister Meles Zenawi der Opposition ethnischen Hass vor; die Oppositionskundgebung prangerte Unterdrückung an.

Noch nie in der mehrtausendjährigen Geschichte Äthiopiens hat es solche politischen Ausdrucksmöglichkeiten gegeben. Das uralte Kaiserreich, die kommunistische Militärdiktatur nach 1974 und seit 1991 das Regime des einstigen Guerillaführers Meles Zenawi und seiner EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front des Äthiopischen Volkes) – sie alle haben Pluralismus dem Zusammenhalt des Vielvölkerstaates Äthiopien geopfert. Die EPRDF, aus der einstigen Befreiungsbewegung der Nordregion Tigray hervorgegangen, regiert mittels einer Koalition mit anderen ethnischen Parteien; mit diesen hält sie derzeit 519 der 547 Parlamentssitze. Menschenrechtsorganisationen und sogar das US-Außenministerium, das Äthiopien als Hauptverbündeten der USA im „Krieg gegen den Terror“ am Horn von Afrika schätzt, kritisieren politische Verfolgung.

Aber im Vorlauf auf die Parlamentswahlen am kommenden Sonntag erlebt die Hauptstadt einen politischen Frühling. Nun war Addis Abeba, die sechs Millionen Einwohner zählende alte Kaiserhauptstadt, den heute herrschenden Tigray-Rebellen aus den Bergen nie wohlgesinnt. Auch jetzt ist es die städtische Intellektuellenschicht, die die Opposition anführt. Aber Äthiopiens Bevölkerung lebt zu 85 Prozent von Subsistenzwirtschaft am Rande des Hungers auf dem Land und unterliegt mangels Privatbesitz an Boden enger staatlicher Kontrolle.

„Lieber ein vertrauter Teufel als ein unbekannter Heiliger“, resümiert die Wochenzeitung Addis Tribune die Stimmung. Nur 25 Millionen der 73 Millionen Einwohner sind für die Wahlen registriert. Besonders wenige sind es in der Somaliregion im Osten Äthiopiens.

In der Region Oromia rings um die Hauptstadt, die mit der Ethnie der Oromos Äthiopiens größte ethnische Gruppe umfasst, sind oppositionelle Aktivitäten nach Angaben eines gestern veröffentlichten Berichts der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch fast nirgends sichtbar. Diese beiden Regionen sind Aktionsfelder bewaffneter Gruppen.

„Diese Wahl wird nicht anders als die anderen“, sagt Daawud Ibsaa, Vorsitzender der größten bewaffneten Oppositionsbewegung OLF (Oromo-Befreiungsfront), gegenüber der taz. „Die Regierungspartei wird wieder die Mehrheit bekommen, die Opposition ein paar symbolische Sitze.“ Er verweist auf die „totale Kontrolle“ der Regierungspartei in ländlichen Regionen.

Die OLF, behauptet Vorsitzender Daawud, sei in der Lage, in weiten Landesteilen die Wahlen zu verhindern. „Wir haben im Moment kein Programm, die Wahl zu stören, aber die Regierung könnte uns provozieren“, warnt er. Nach Meinung von Human Rights Watch sind die Guerillaaktivitäten der OLF jedoch größtenteils Fiktion und dienen der Regierung eher als Vorwand für Repression. So verbietet Äthiopiens Wahlgesetz Kundgebungen auf Marktplätzen und nahe religiöser Stätten sowie jegliche politische Aktivität, die „Disharmonie und Unordnung“ schürt.

Erst letzte Woche hob die Justiz ein Verbot für einheimische Nichtregierungsorgansiationen auf, die Wahlen zu beobachten – zu spät für eine flächendeckende Beobachterentsendung.

Ansonsten sind lediglich rund 300 internationale Beobachter eingeladen, wobei die führenden US-Organisationen bereits ausgewiesen worden sind. Die meisten Beobachter stellt die EU, die sich mit Kritik derzeit auffallend zurückhält.