: Bundesrepublik Europa
PIRATEN Die transnationale Netzpartei entwickelt ihr Europaprogramm. Dabei gibt es fast mehr Meinungen als Mitglieder
Heide Hagen sitzt am Holztisch in ihrer Küche und bläst den Rauch ihrer Selbstgedrehten aus. „Die Suchtpolitik der Piraten habe ich maßgeblich mitgeprägt“, sagt sie und lacht das herzliche Lachen einer jung gebliebenen Künstlerin. Doch die 55-Jährige verfolgt auch die Europapolitik ihrer Partei. Transparenz, Bürgerrechte, bedingungsloses Grundeinkommen – das kleine Einmaleins der Piraten will sie auf die große europäische Ebene übertragen. Das Europaparlament ist ihr zentraler Ansatzpunkt, es bräuchte mehr Rechte. Ein „Wunschtraum“, gibt sie zu.
„Grenzen, wo man keine braucht“
Amelia Andersdotter meldet sich per E-Mail aus Brüssel. Die 24-jährige Schwedin mit Attac-Vergangenheit ist eine von nur zwei Piraten-Abgeordneten im europäischen Parlament. Dort setzt sie sich dafür ein, dass alle Menschen Zugang zu Daten und neuen Kommunikationsmitteln bekommen. Vom Schutz geistigen Eigentums hält sie nicht viel: „Da werden Grenzen gezogen, wo man keine Grenzen braucht.“
Es waren SchwedInnen, die Anfang 2006 weltweit die erste Piratenpartei gründeten. Nur wenige Monate später folgten die deutschen Piraten, die inzwischen in Europa den Ton angeben. Ihr ,Piratenappell pro Europa‘ vom Bundesparteitag im vergangenen Dezember in Offenbach gilt anderen europäischen Piraten als Vorbild. Der Text ist Teil des Programms der deutschen Partei. Sie wollen das europapolitische Profil auf einem der nächsten Bundesparteitage weiter ausarbeiten.
Einer, der an dem Appell mitgewirkt hat, ist Aleks Lessmann, Mitglied der AG Europa in der Partei. Lessmann sieht sich und die Piraten als „Teilmenge einer transnationalen politischen Bewegung“. Das wichtigste Ziel sei das „Bekenntnis zu einer demokratischen EU“: Das EU-Parlament müsse endlich ein „richtiges Parlament“ mit Haushaltsrecht werden, sagt er telefonisch aus Bayern, wo er Politischer Geschäftsführer seiner Partei ist.
Will man deutsche Parlamentarier der Piraten treffen, findet man sie im Abgeordnetenhaus von Berlin. In Raum 439 sitzt Fabio Reinhardt allein an einem langen Konferenztisch und strahlt Ruhe aus. Er trägt einen Fleece-Pullover im knalligen Orange seiner Partei. Auf dem Tisch die Insignien eines Netzpolitikers: Notebook, Smartphone und Club-Mate-Flasche. Er will Grundrechte verteidigen statt einschränken, die europäische Bürgerinitiative stärker nutzen und bekannter machen. Bei den einzelnen Stichworten stößt er mit dem rechten Zeigefinger in die Luft. Reinhardt selbst sieht sich als „Regionalist und Weltbürger“, wohl auch als Europäer, aber kaum als Deutscher. Durch länderübergreifende Aktionen wie gegen das Urheberrechtsabkommen Acta bilde sich von ganz alleine eine europäische Identität heraus. Vielleicht wird der bunte Haufen der Piratenparteien sogar bei den Europawahlen 2014 gemeinsam antreten.
Auf dem Flur des Berliner Abgeordnetenhauses kommt zufällig Gerwald Claus-Brunner vorbei. Dieser Abgeordnete ist sogar komplett in Orange gekleidet. Seine Vision: eine „Bundesrepublik Europa“, die in ihrem föderalen Aufbau der jetzigen Bundesrepublik Deutschland entspräche.
Das EU-Parlament simuliert Demokratie
Heide Hagens Küche liegt nur wenige Kilometer vom Abgeordnetenhaus entfernt. Die herzliche „Mutti der Neuköllner Piraten“, wie ein Freund sie nennt, trägt einen braunen Kapuzenpulli. Alte Möbel in warmen Farbtönen machen die Küche gemütlich. Das Europaparlament ist weit weg von hier. Dazu hat Heide Hagen eine klare Meinung: In seinem jetzigen Zustand sei das EU-Parlament eher eine „Demokratiesimulation“ als eine wirkungsvolle Institution. Sie wünscht sich nicht nur mehr direkte Beteiligung der Bürger an politischen Prozessen, sondern fordert auch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Im Gegenzug könnte sie sich vorstellen, dann den Kündigungsschutz abzuschaffen. Ein reformiertes, gemeinsames europäisches Urheberrecht gehört für sie auch auf die Agenda der Piratenparteien. Klare Ansage einer aktiven Piratin an der Basis. Einer überzeugten Europäerin in Neukölln.
MARKUS PFALZGRAF