: Das Wasser-Syndrom
Immer mehr Menschen bestellen Leitungswasser. Zunächst dachte man: ein gesellschaftlicher Fortschritt. Nicht aus der Sicht einer Kellnerin. Die Klage einer anonymen Tresenkraft
VON REBECCA VERHANGEN
Schwungvoll pflanzt sich der Gast auf den Tresenhocker und bestellt ein kleines Bier. Die nächsten zwei Stunden unterhält er sich angeregt mit seinem Bekannten auf dem Nachbarhocker. Nun bestellt er das zweite kleine Bier und trinkt es im Laufe der nächsten eineinhalb Stunden zu angenehmer Musik, zu angenehmen Gesprächen. Und dann überkommt ihn ein dringendes Bedürfnis. „’tschuldigung“, sagt er zur Tresenkraft, „könnt’ ich mal ein Glas Leitungswasser bekommen, das Bier macht so durstig.“
Die Tresenkraft bin ich. Ich ziehe die Augenbrauen ein wenig hoch, ich warte darauf, dass ein Hauch von Beschämung von der anderen Seite des Tresens herüberweht, ich hoffe vergebens. Dann nehme ich wortlos ein mittelgroßes Glas und fülle es mit lauwarmem Leitungswasser. Der Gast nippt zufrieden. Und sehr langsam. Eine weitere Stunde später zahlt er: „Vier Euro? – So wenig?!“ Sein Erstaunen könnte nicht gespielter, seine Begeisterung nicht größer sein. Dies ist der Moment, in dem ich ihm gern ein weiteres Leitungswasser gratis ausschenken würde, mit viel Schwung.
Vermutlich ist das grassierende Leitungswassersyndrom in Kneipen nur wieder so ein Zeichen. Kein gutes, obwohl man sagen könnte, dass es schließlich gesund ist, viel Wasser zu trinken. Besonders auch zu Bier, weil ja jeder weiß, dass Alkohol dem Körper Flüssigkeit entziehen. Leider aber ist es für eine Kneipe nicht sehr geschäftsfördernd, wenn auf einmal ganz gesundheitsbewusste Trinkerinnen zur Apfelschorle gleich noch ein Glas Leitungswasser nehmen, wenn das 0,2-Glas Leitungswasser zurückgegeben wird, weil der Gast nach dem Konsum eines sehr kleinen Biers ausdrücklich ein sehr GROSSES Glas Wasser aus dem Hahn bestellt hatte. (Darf es vielleicht noch mit Eis und Zitrone sein?) Um etwaigen Spekulationen vorzubeugen: dies ist kein Phänomen unter Einheimischen. Es gibt auch italienische Besuchergruppen, die zur einen Hälfte gleich gar nichts und zur anderen die neue In-Kombination erst Bier und dann viel Leitungswasser nehmen. Natürlich geht es nur selten um Gesundheit, wenn jemand Leitungswasser bestellt, es geht schlicht um den Spareffekt. Leitungswasser kostet nichts. Super Sache.
Ohne das Portemonnaie zu belasten, hat der Gast ein Glas vor der Nase und kann stundenlang so tun, als hätte er seinen Teil zum Geschäft beigetragen, das in einer Kneipe allabendlich abläuft: Die Kneipe an sich bietet den atmosphärischen Hintergrund, die hinterm Tresen sorgen für Musik und Getränke, die vorm Tresen nehmen’s mit Wohlgefallen oder sind zumindest einfach zufrieden. Ein Gast, dem eine Kneipe nicht gefällt, der geht einfach. Eine Bedienung, die es leid ist, Leitungswasser auszuschenken, hat es schwerer.
Ich verweigere niemandem sein Wasser. Von mir aus darf jeder, der in eine Kneipe kommt, erst mal ein Glas kippen. Danach aber gilt ziemlich nah am Grundsätzlichen: Wer in einer Kneipe Durst hat, der soll trinken, und zwar das, was auf der Karte steht. Dazu ist die Karte da, die Kneipe auch, und der Gast in der Kneipe ebenso.
Weil aber derzeit immer mehr Menschen immer weniger Geld haben oder es jedenfalls glauben und weil in dieser wunderlichen alle umfassenden Stimmung des ökonomischen Niedergangs der Trend entstanden ist, ein sparsames Leben zu führen, Geiz gegen sich und andere zu üben. Leitungswasser zum Streck- und Brückengetränk geworden. Stundenlang hat man’s nett und warm und wird unterhalten und unterhält sich, und es kostet – nichts. Nur mich meine Nerven. Die Geschäftsgrundlage einer Kneipe ist schließlich auch, dass die, die sie besuchen, ihren Beitrag leisten, indem sie etwas trinken, was etwas kostet.
Ich mag es, hinterm Tresen zu stehen und Leute vor mir zu sehen, denen der Laden gefällt, die sich gut unterhalten. Sie müssen sich gar nicht betrinken, erst recht nicht besinnungslos. Wenn aber all die Leitungswassertrinker so hemmungslos weitermachen, wenn sie sich womöglich weiter vermehren, dann gibt es kleine nette Kneipen wie meine bald nicht mehr. Mancher Tresenhocker würde seinen Anteil an der Pleite gar nicht bemerken. Schade, würde er sagen, war so nett da.
Tja, kann ich da an dieser Stelle schon mal warnend anmerken: Geiz ist nicht nur nicht geil, er ist sogar richtig dumm. Wohl bekomm’s!